Montag, 19. März 2012

Schöner Montag

Nachdenkzeit. Sie wird mir immer wichtiger und immer mehr unverzichtbar. Ein Montag heute. Kurz nach acht Uhr kommt Messi in den Raum und sagt "Entschuldigung!" Ich sage, dass ich bald nichts mehr entschuldige, er kommt einfach zu oft zu spät, da macht er eine Kopfbewegung: Ist mir doch egal. Ich bitte ihn um sein Mitteilungsheft, schreibe später alle Zuspätkommtermine ein und bitte die Eltern um Stellungsnahme. So nicht. Ist viel Arbeit.
In meinen jungen Jahren  hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich mal ein Minutenzähler für Pünktlichkeit würde...
Erster Eindruck von Ali: Der ist aber schlecht drauf heute. Bei allem, was war, lamentiert er herum, es sei zu schwer oder zu viel oder beides. Das reine Jammern, aber recht instrumentell eingesetzt. Er denkt wohl, damit kann man olle Frauchen löchern. Da hat er sich bei mir aber geschnitten. "Was ist mit Dir los? Heute ist Montag, da müsstest Du ausgeruht sein. Du hattest zwei Tage frei!" Er sagt nicht, warum er alles andere als ausgeruht ist. Ich bitte ihn um sein Mitteilungsheft, schreibe kurz ein, was los ist bzw. nicht los ist und bitte die Mutter um eine Antwort.
Zur Klasse: "Wie war das Frühlingsfest?" "Toll, wunderbar!" Sally hat ihren Text beim Singen behalten, hatte vorher große Angst gehabt, ihn zu vergessen. Auch die Geigen waren gut. Nur Selena war mit etwas nicht zufrieden, das ich nicht so verstanden habe.. Für sie war es aber trotzdem "O.K."
Dann zum nächsten Punkt: "Was war denn gestern Besonderes in Berlin?" Keine Reaktion. "Na, politisch, im Bundestag, im Reichstag, es wurde auch im Fernsehen übertragen." Kein Schimmer.
"Na, da wurde jemand gewählt."
Ein Glück, dass die Tafel gut gewischt ist: DER BUNDESPRÄSIDENT. Der Bund? Was ist der Bund?
Aha, die Bundesländer, wir zählen sie auf. "Präsidieren heißt vorstehen, er ist also der Vorsteher, der Erste im Staat." "Und Merkel?", wird gefragt.  "Frau Dr. Merkel ist die Bundeskanzlerin." "Die hat einen Doktor?" "Ja, und den hat sie auch selbst gemacht. In Physik. Wer schreibt uns mal Physik an?" "Gut." Ich wische das Wort weg. "Das braucht Ihr noch für später, für's Diktat!" Pech, wer nicht aufgepasst hat.. "Also, gestern wurde der Bundespräsident gewählt, der erste Mann im Staat. Wie heißt er?"  "GÜNTHER JAUCH!"

Na gut, das passt zum Zustand dieser Republik. Wir klären, wer Günter Jauch ist, was ein Moderator ist. Dann komme ich in Fahrt. Jetzt bin ich nicht mehr zu bremsen. Hier muss gegengesteuert werden. Tour d'Horizon durch die Politiklandschaft mit Parteien, Wahlkreisen, Bundestag, Minister, Bundeskanzler etc. Eine halbe Stunde später braucht jeder im Raum wirklich eine Pause.
Was mir nicht gefiel: Bei jedem Politikernamen brüllte eine Gruppe von Jungen los, hähähä, als würde das ganz komisch klingen. Jetzt ernst werden. Hinweisen, dass Namen nicht lächerlich sind. Ihr wollt auch nicht, dass über Eure Namen gelacht wird. 
Nach dieser Ansage lacht Bastian erneut beim nächsten Namen los. Es ist der Vorname des von mir nicht übermäßig geschätzten Partylöwen Wowereit, der seine Kinder, so er denn welche hätte, erklärtermaßen niemals nach Kreuzberg zur Schule schicken würde und  im Moment in Wulffscher Manier eine Urlaubssache an der Backe hat, wobei sich bei ihm  ernsthaft die Frage stellt: Urlaub, wovon? Klaus. Wieherndes Gebrüll von Bastian: Also: Raus!!!
Dann bereiten wir unsere Klassenarbeit vor. Erster Teil: Diktat. Erster Satz: Katrin freute sich schon sehr auf die Physikstunde.
Nein, es ist ein neuer Text, ähnlich dem, den wir einmal geübt hatten, aber nicht der gleiche. In drei Längen. Wer nicht mehr weiterschreibt, nimmt sich ein Buch und liest. Bis zur ersten Hofpause wird eifrig geschrieben. An Einzeltischen. Das ist der Testmodus. Normalerweise arbeiten wir an Gruppentischen.
Pause, war trotz Aufsicht ganz entspannend, sitze am Fußballfeld und schaue den 3./4. Klassen beim Kicken zu.
In der dritten Stunde gibt es eine Nachschlagephase im Wörterbuch zum Diktat. Dann erkläre ich die Bögen zum Verben konjugieren und Nomen deklinieren. Auch hier soll das Wörterbuch benutzt werden. Wiederum in drei Schwierigkeitsstufen. Bei der leichtesten ist die erste Zeile beim Konjugieren schon ausgefüllt.
Da fällt mir ein, dass man ein Fragespiel machen kann, wenn man schon sehr trainiert ist, z.B. Verb "schreiben", 2. Person Singular, Präteritum. Lösung: du schriebst. das ist etwas für unsere sog. "Monde", die am leistungsstärksten sind. Man kann das dann noch steigern, wenn man alle Zeiten hat sowie Indikativ/Konjunktiv und Aktiv/Passiv...
Es schadet nichts, wenn sie das einmal probieren. Es schult exaktes Denken.
Beim Deklinieren im Plural, Genitiv und Dativ, haben viele Kinder große Schwierigkeiten. Ich weise sie auf unsere Übungswörter "der Mann" "die Frau" "das Kind" hin und dass sie Analogien bilden können. Einige schreiben so doch noch richtige Lösungen auf.

Ich muss mehr Zeit geben als gedacht. Zwei Kinder sind extrem schnell fertig. Es ist ihnen wurscht, ob es gut oder schlecht ist. Aber viele beißen sich an den Aufgaben fest und wollen nicht aufhören. Sie dürfen weitermachen. Die, die fertig sind, gehen nach drüben zur Erzieherin und spielen dort. Trotzdem knobeln viele verbissen weiter und man muss ihnen das Blatt förmlich wegziehen.

Ich bin nun sehr auf die Ergebnisse gespannt. Wirklich sehr. Es war so eine ruhige, angespannte Atmosphäre, wie ich sie von mir selbst vom Gymnasium her kenne. Ich finde diesen Biss, den viele Kinder haben, toll!

Pause. Kopiere noch Sachen für die Mathestunde, die nun wirklich einmal gemacht werden muss.
Will mich einfühlen, kopiere Additions, Subtraktions- und Multiplikationsaufgaben. Möchte sehen, was sie können.

Ali löchert herum, wir wollten doch den Film noch zu Ende sehen, den Neandertalerfilm, gegen den er sich vor Tagen dermaßen gewehrt hatte, dass er gar nicht hingeguckt hatte.

Es wird gerechnet. Dann ist diese Stunde zu Ende. Nur noch eine Förderstunde. Wir haben aber derart viel und intensiv Deutsch gemacht, dass jetzt in dieser Richtung nichts weiter geht. Verabrede mich mit einigen Kindern zum Aquariumsputzen in der Wollwerkstatt. Alisa will stricken. Selena und Cherry wollen Wolle kämmen.

Da kommt Kollege Krollmann vorbei. Er hat jetzt auch Fördern hier. Letzter Mohikaner sozusagen. Habe ansonsten seit Wochen keinen Förderlehrer mehr gesehen.
Ich frage ihn nach dem Frühlingsfest. Es war schön, das beste seit vielen Jahren, aber auf drei unserer Jungs ist er ziemlich geladen. Na wer wohl? Ali, Mesut und Messi.
Hmm. Jetzt hat er mit ihnen mit der Schulband monatelang geprobt und dann das. Sie haben sich wohl sehr disziplinlos verhalten.

Also, liebe andere Kinder, die Fische und die Wolle müssen warten. Das muss geklärt werden. Die drei Jungen, Herr Krollmann und ich gehen in den Musikbereich zum Gespräch.
Ich habe keine Zeit nachher noch. Nur jetzt sind wir alle zusammen. Ich will nachher mit meinem Mann essen gehen und das WERDE ich auch tun!!!

Sie haben sich während der Feier absolut rücksichtslos verhalten, waren während der anderen Darbietungen laut, tobten über die Bühne etc.  Als ich Ali frage, warum das so war, schaut er übern Tisch Messi an, der neben mir sitzt. Schaue mich zu Messi um, und der grinst. Zweiter Rausschmiss heute. Mit ihm muss man gar nicht mehr reden.

Am Freitag, das erfuhr ich eine halbe Stunde vorher, hatte er einer Erzieherin die Brille von der Nase gekickt. Sie hatte eine Nasenprellung und musste sich am gleichen Tag noch eine neue Brille kaufen.

Aus den anderen beiden Jungen ist nichts herauszubekommen. Mesuts Mutter hatte draußen gewartet, um ihn danach abzuholen.  Warum war sie nicht hereingekommen und hatte sich alles  angehört und -gesehen? Alis Mutter soll einen Termin gehabt haben, Freitagnachmittag ab 16 Uhr. Glaube ich das?
Nachdem die beiden Jungen gegangen sind, unterhalten wir beiden Großen uns noch, tauschen uns über Verletzungen aus, die wir innerhalb eines Schultages erleiden. Ich will nicht weinerlich sein. Doch dieses Gespräch gehört mit zum Wertvollsten, was ich in den letzten Monaten in der Schule erlebt habe.
Treffe beim Gehen noch Meryem und frage sie, ob sie wirklich Peter eine Nachhilfe verschafft habe. Ja. Aber wir haben uns doch damals in dem langen Gespräch anders geeinigt. Wir hatten doch noch warten wollen und mit unseren Hausmitteln arbeiten und sehen, ob es anschlägt. Ja, aber...Sie erklärt irgendwas. Ich sage, dass ich verletzt bin, weil sie unsere Abmachung nicht eingehalten hat. Ich fühle mich nicht ernst genommen. Sie meint, da müssten wir noch in Ruhe darüber reden. Ich weiß aber nicht, ob ich noch einmal darüber reden will. Wir hatten ein Gespräch vor dem Gespräch mit der Mutter. Wir hatten ein langes Gespräch mit der Mutter. Und trotzdem ist es schiefgegangen.
Ich will nicht verstehen, warum die andere Seite sich nicht an unser Gesprächsergebnis hält. Ich will, dass die andere Seite des Gesprächs sich an unser Gesprächsergebnis hält. Ist das zu viel verlangt? So viel zum Thema Verletztheit.

Manchmal frage ich mich, ob die Situation, wie sie heute ist, wirklich so große Vorteile bringt. Früher habe ich die Mutter zum Gespräch bestellt. Wenn sie nicht gut genug deutsch sprach, dann brachte sie sich eine Nachbarin mit. Dann war ich der Gesprächspartner, die Lehrerin. Jetzt spielt sich das Gespräch vornehmlich zwischen Mutter und Sozialarbeiterin ab und ich sitze daneben und fühle mich ein wenig zu weit von der Mutter weg.
Wer dolmetscht  wem welche Kultur? Ich meine, geht es denn nicht AUCH darum, dass wir die Eigenkräfte der Eltern stärken und ihre Initiative, was ihre eigenen Belange angeht, verbessern? Früher mussten sich die Eltern mit ihren Sprachkenntnissen, so, wie sie waren, zurechtfinden. Sie mussten sich im schulischen Raum aktiv bewegen. Wir konnten auch merken, wie gut die Sprachkenntnisse waren. Wir konnten darauf eingehen. Sicher blieb vieles an Differenzierungen auf der Strecke. Es gibt daher sicher auch Situationen, wo das Übersetzen elementar wichtig ist.
Trotzdem glaube ich, dass man den Eltern nicht alles abnehmen darf.  Ich möchte weiterhin der Gesprächspartner der Eltern sein, den sie wirklich meinen. Das liegt nicht an Meryems Art zu dolmetschen, sie macht das sehr gut und sagt den Eltern auch dies und das, was sie tun sollten oder lassen sollten und warum. Das habe ich schon bemerkt.
Doch habe ich jetzt mehrere Gespräche erlebt, wo Eltern sich an mich als Lehrerin eigentlich nicht mehr wirklich adressiert haben, und das stört mich.
Die Mutter im letzten Gespräch verstand recht gut einiges, was in deutsch gesagt wurde und in dem Moment, wo ich versuchte, mich ihr direkt verständlich zu machen, gelang dies auch. Ihre Fähigkeiten, deutsch zu verstehen und zu sprechen waren nicht gleich Null. Das erfuhr ich in dem Moment, wo ich sie direkt ansprach und in eine direkte Kommunikation mit ihr eintrat.
Ich denke, man kann die Art und Weise der Gespräche verbessern, indem man zunächst einmal versucht, Eltern und Lehrer miteinander aktiv werden zu lassen und nur einspringt, wo Wichtiges nicht zur Geltung kommt.
Den Eltern muss klar sein, dass sie sich mit uns und der Schule aktiv auseinandersetzen sollen, im Interesse ihrer eigenen Teilhabe und der ihrer Kinder an dieser Gesellschaft, in der sie ihren Lebensmittelpunkt haben.


Das Essen mit meinem Mann zusammen hat sehr gut geschmeckt.

Am Donnerstag möchte ich mit der Klasse, wenn das Wetter schön ist, zu den Schulschafen fahren. ich habe die aller-allergrößte Lust, Bastian, Mesut, Ali und Messi mit Aufgaben in jeweils eine andere Klasse zu schicken und mit den anderen Kindern zu fahren und dann zu spüren, wie sich das anfühlt.





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