Sonntag, 28. Juni 2015

Zeugnisse. Meine Ungeliebten Textkinder

Der letzte Post war vor vier Wochen. 




Immer, wenn ich hätte schreiben wollen, sagte eine Stimme in mir:

"Du solltest besser jetzt


Zeugnisse 

                                             schreiben!

Zeugnisse sind aber nicht die Art Text, die ich liebe.
Ich liebe "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", ich liebe den "Mann ohne Eigenschaften" (das ist der mit dem Möglichkeitssinn), ich liebe den "Zauberberg", ich liebe nicht Zeugnisse.

(Kafka zu lesen, fiel mir immer sehr schwer, WEIL es so realitätshaltig, somit unerträglich wurde. Aber er gehört hier her.)

Erstens. Man schreibt über Menschen. Man be-urteilt sie. 

Zweitens. Man hat im Prokrustesbett des Zeugnisformulars nicht den Platz dafür, den man haben sollte und möchte, damit es differenziert und angemessen zugehen kann. Auch das Vergrößern des Textes durch Verkleinern der Schrift erreicht irgendwann eine physiologische Grenze.




Hier erschlägt Theseus Prokrustes.
Er hatte sein Bett Reisenden angeboten.
War man zu klein, wurde man langgezogen.
War man zu lang, wurden Gliedmaßen abgehackt...


Drittens. Ich darf mich nicht an den Beurteilten, an den zu Beurteilenden wenden. Ich darf nicht im "Du" schreiben. Das wäre ein gutes Korrektiv. In jedem Urteil steckt der Beurteiler drin, ob er das mag oder nicht. Man sollte ihn erkennen können.

Je differenzierter der Text, umso besser kenntlich wird der, der ihn schrieb. Er kann sich dann nicht hinter Floskeln verstecken.

Aber Floskeln, gestanzte Sprachschablonen, sind erwünscht. Das passt zur Ver-waltung von Menschen.

Ich weiß auch nicht, warum ich, wenn ich nicht ganz doll aufpasse, immer "Vergewaltigungsgericht" statt "Verwaltungsgericht" sage... Ein typischer Freudscher Versprecher, der wohl seine Wahrheit hat.

Also, es braucht für mich ganz viel, um zu den Zeugnissen als zu schreibende dann seelisch auch wirklich hinzugelangen.
Die Menschenverwaltung (so etwas dürfte es gar nicht geben), die hält es für normal, dass man ein paar gestanzte Sätze schreibt, oder gar noch - Vorgegebenes ankreuzt!!

Für mich hat das - Entschuldigung - ich nehme mir das Recht, es so zu nennen, weil ich es so empfinde und meine, ich kann das auch belegen - für mich hat das einen zu hohen Nazifaktor.

Das wird nicht gern gehört, das ist klar. Das scheinbar Normale wird aber zum Skandalon, wenn jeder nur noch ausführt, was "von oben" kommt und nicht mehr sich als handelnde und denkende Person begreift.
Soweit zum Nazifaktor.

Ich bin 1976 nicht Lehrerin geworden, um Menschen zu verwalten.
Ich habe gefragt, ob ich Angestellte statt Beamte sein könnte, ich wollte keine Beamtin sein, ich wollte Lehrerin sein damals.

Nein, damals ging das nicht.

Ich habe was geschworen, und ich weiß leider nicht mehr, was das genau war. Aber es fühlte sich damals richtig an. Es war etwas mit Gutem schaffen und Schlechtem abwenden für die, die der eigenen Fürsorge anvertraut sind.

Leider ist es mir bislang nicht gelungen, mir diesen Beamteneid-Text nochmal zugänglich zu machen. So schlecht war er wohl nicht. 

Wenn man ihn an heutigen Realitäten misst, dürfte er  fast subversiv in seiner scheinbaren Antiquiertheit sein.

Er hatte etwas mit dem Selbstverständnis der Nachkriegsrepublik zu tun.

Mein Lehrersein hatte etwas mit Adorno und der Frankfurter Schule zu tun und seinem Buch
"Erziehung zur Mündigkeit".

Jede(r) von uns, der/die sich auch nur eine Spur mit Kant beschäftigt hat, verbindet das Wort "Mündigkeit" mit "Aufklärung als dem Herausgehen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit", Unmündigkeit, gegen die Erziehung im Adornoschen Sinne wirksam sein möchte.
Wobei das Wort selbstverschuldet im Satz sicher auch nicht nebensächlich ist.

Leider finde ich das Buch nicht mehr im Bücherregal, habe es wahrscheinlich spontan irgendeiner Referendarin oder einem Praktikanten geschenkt, die es vermutlich nie lesen werden...

Der erste Text im Buch heißt "Erziehung nach Auschwitz". Der erste Satz dieses Textes, mit dem das Buch beginnt, lautet:

Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.


Den ganzen Text kann man hier  nachlesen.

Das war mein Kompass. Deshalb habe ich beim Zeugnisschreiben mit absolut starken Demotivationsvorgängen zu kämpfen. Leider gibt es keine Verbündeten mehr, um im Gespräch diese Probleme zu verflüssigen und besser handhabbar zu machen.

Ich danke ausdrücklich meinem früheren Schulleiter in Heiligensee, Herrn Trenn, der es mir nach einem langen Gespräch in den Achtziger Jahren erlaubte, das Textzeugnis von Hand ins Zeugnisformular einzutragen UND!!!: Auf der Rückseite weiterzuschreiben!!!
Das hat mich damals gerettet.

Mehrfach setzten wir uns als Gruppe im Kollegium in heißen Diskussionen zwischen bis etwa 2012 zusammen  in der Gesamtkonferenz meiner heutigen Schule vehement dafür ein, dass Textzeugnisse NICHT mit Ankreuzen von vorgegebenen Satzstanzen erstellt werden.

Dass die KollegInnen sich die Mühe machen, selbst zu schreiben. Das trauten sich manche nicht zu...

Erstaunlich, nach einem akademischen Studium von in Berlin acht Semestern, an dessen Ende man schwer gut bezahlt wird, wenn man europäische Maßstäbe anlegt.

Man sollte als LehrerIn schon von sich erwarten, einen Text zu formulieren.

Übrigens mehrfach ohne Erfolg. Die Gesamtkonferenz stimmte in der Mehrheit fürs Ankreuzen.
Der Beschluss der Gesamtkonferenz wurde dann glücklicherweise von den Eltern in der Schulkonferenz wieder gekippt, so dass weiterhin Texte geschrieben werden "durften". Mein Glück im Pech.

Unsere damalige Xberger Schulleitung hatte uns in den Achtziger- und Neunzigerjahren viele Jahre lang erlaubt, die Zeugnisse in der "Du"-Form zu verfassen. Das war keine Kleinigkeit, das hat uns beflügelt.
Das war diese wunderbare Schule damals.

Irgendwann hat die Vergewaltung dann zugeschlagen und wir sollten damit aufhören.

Da ich auch nicht glaubte, dass es mir gegeben ist, selbst eine Schule zu gründen, musste ich mich fügen.

Okay, sie sind (fast) fertig, müssen noch einmal gelesen werden, und dann darf ich sie in die Welt entlassen, meine Ungeliebten Textkinder.

Aufatmen. Hört Ihr es?