Donnerstag, 29. März 2012

Anatomie eines Konflikts

Oh, oh, ob ich das alles nochmal zusammenkriege? Von 8 bis 16h? Mal versuchen. Gestern war es ja so schön gewesen. Aus heftigen Träumen aufgewacht heute 7.30 h angekommen, Kinder alle nett, als die erste Stunde beginnt. Drei kommen zu spät. Trage sie ein. Erfrage, was gestern noch so war. Muss die vollste Harmonie gewesen sein am Nachmittag, alles. Ali hatte die Wette gewonnen, wenn man seinen Mitschülern und Mitschülerinnen glauben will. Alle klatschen für Ali. Er ist sehr stolz. 

Dann gebe ich die kleine Deklinationsarbeit zurück, die mit den Noten. Manche Kinder sind nicht so erfreut. Hatte streng zensiert, damit wir in Fahrt kommen zu üben. Tobi schreibe ich noch etwas für die Mama ein, er ist schon ziemlich geknickt. Ich sage ihm, er soll sich mehr melden und viel mehr im Unterricht sagen, viel mehr sprechen und wirklich, in der vierten Stunde kommt er so richtig gesprächstechnisch in Fahrt und sagt kluge Sachen. Prima, Tobi, Du kannst das!

Dann widmen wir uns noch einmal dem "Friedrich". Ein Kapitel lese ich, eines die Kinder nacheinander, abschnittweise. Tobi hat sich eklatant im Lesen verbessert, liest viel flüssiger, das ist wunderbar. Hat viel zu Hause lesen geübt! :)) Muss auch ins Elternheft hinein. 

Das Kapitel "Der Film" ist schon heftig. Friedrich und der Erzähler besuchen den Film "Jud Süß", den Friedrich gar nicht sehen darf und er wird prompt erwischt. Er ist natürlich nicht aus Neigung hineingegangen, sondern weil er mitbekommen will, wie Seinesgleichen im Film dargestellt wird. Friedrichs Mutter ist längst verstorben, während der Pogromnacht, sein Vater und er reparieren kaputte Lampen, weil sie nichts mehr arbeiten und verdienen dürfen. Im Gespräch fällt das Wort "Schwarzarbeit", und es muss mal geklärt werden, dass Schwarzarbeit in einem Unrechtsstaat, der einem das Lebensrecht verweigert, etwas Anderes ist als in einem Rechtsstaat.

Dann ist die erste Pause. Danach sprechen wir über das Schulfest im Mai. Haben wir Ideen? Jede Klasse soll etwas beisteuern. Es kommen als Ideen: Alkoholfreie Cocktails zum dritten Mal? Was Schäfliches? Schubkarrenrallye mit Heuballen? Elektrifizierte Weltkarte mit Ländern und Haupstädten als Quiz, woher die Schüler unserer Schule kommen? Die Elektrik selbst gebaut? Werkarbeiten herstellen und anbieten für die Klassenfahrt oder die Schafe zur finanziellen Unterstützung?
Die Werkarbeiten und die Cocktails halten sich beim Meinungsbild die Waage. Das Werken wäre nicht schlecht: Gefilzte Jongliersets mit Stoffbeutel, ein Länder-Hauptstädte-Memory aus Sperrholz im Stoffbeutel, ein Deutschland-Länderpuzzle in gleicher Verpackung, selbstgeflochtene Körbe?
Das ist doch genau das, was fehlt und was so viel Freude macht. Selbstwirksamkeitserfahrung ;-) im Handwerk. 
"Handwerk" soll es heißen, das Vorhaben, meinten einige Kinder.

Dann möchte ich in den Nawiraum hinunter, den Klimafilm noch einmal ansehen, die einzelnen Sequenzen einzeln, unterbrochen durch resümierende Gespräche.
Ali, der beim "Friedrich" schon extreme Haltungsschwächen zeigte, geht jetzt voll in die Rebellion. Er habe den Film schon gesehen, was das jetzt soll, er brauche das jetzt nicht mehr.
Wir gehen den Film doch noch einmal durch. So viele Einzelheiten werden da angesprochen. Das muss alles sortiert und verdeutlicht werden, damit es sich ins Bekannte einbauen kann. Einige Schüler sind erstaunlich gut bei den Gesprächen, Lilly, Tobi und immer wieder Peter und Hans, aber auch Selena ist sehr aktiv, Eren ebenfalls.
Nur Ali hängt demonstrativ überm Tisch und zeigt allen, wie Scheiße das jetzt alles ist. Während Bastian ständig an Tobi herumzoppelt und die ganze Umgebung ablenkt. Ihn muss ich umsetzen. Es geht um Wetter und Klima und die Faktoren, die dazu beitragen, Meterologie, Altersbestimmung und Zusammensetzung  von Polareis, CO2-Anteile vor 20 000 Jahren und heute und warum CO2 zur atmosphärischen Erwärmung beiträgt, es geht um Eiszeiten und Warmzeiten, Gletscher, Moränen und Findlinge.
Einmal ist sogar eine Hallig bei Sturmflut zu sehen...Wenn wir im Juni nach Wyk auf Föhr fahren werden, dann werden auch die Geestkerne der Inseln von der letzten Eiszeit eine Rolle spielen.
Nun geht's zur zweiten Pause. Diese verwandelt sich prompt in eine Regenpause, die meiner als Aufsicht bedarf. Danach habe ich ein Gespräch innerhalb einer Lehrergruppe zur Änderung der Schulanfangsphase in altershomogene Gruppen und ich soll aufschreiben, warum das sinnvoll ist.

In der 6. Stunde gehe ich zur Unterstützung nochmal in den Englischunterricht. Danach eine Stunde frei, die Klasse hat Essen. Ich muss aus diesem Schulhaus raus, die Luft, der Lärm, ich muss da einfach mal raus, das zieht mir so die Energien weg, also nichts wie weg für eine halbe Stunde ins richtige Leben. :-)

Danach brennt die Hütte. Was war passiert? Beim Essen muss es begonnen haben. (Im Nachhinein meine ich, es könnte auch sein, dass es schon in der ersten Pause begonnen hat.) Ali - man merkt schon, dies wird wieder ein Ali-Tag - hat Anna und Cherry geschlagen. "Sie haben schlecht über mich geredet," sagt er. Daraufhin schlug Emmely Ali, Eren schubste Emmely, diese zog Eren von hinten an der Kaputze, so dass der Reißverschluss des Anoraks ihm vorne ein fünfcentgroßes Hautstück vom Hals riss. Ali bezeichnete dann noch Sallys Bruder als "schwul" und die anderen Sachen habe ich vergessen.
Die Mädchen versichern treuherzig, sie hätten nur einfach so geredet und gelacht, sie hätten nie und nimmer über Ali gelacht. 

Kollegin Frau Herzog führt die Untersuchung, das macht sie sehr bestimmt und gut. Sie kündigt an, die Zeit, die wir jetzt benötigen, nachzuarbeiten. Ich ziehe da natürlich mit und am Ende ist die Mathestunde um halb vier beendet anstatt um zehn nach drei.

Während des Rechnens frage ich in meiner Fördergruppe nach, ob jemand in der Nähe war, als der Streit eskalierte. Ja, einer war in der Nähe gewesen und der Ansicht, Anna und Cherry hätten beim Essen schlecht über Ali gesprochen.

Gestern war alles so harmonisch zwischen Ali und den Mädchen gewesen. Er hatte sich auf die "Wette" eingelassen, er hatte sich eine unglaubliche Mühe gegeben. Auf eine Weise hatte er damit gezeigt, dass ihm die Mädchen wichtig waren, sie hatten alle gemeinsam etwas auf die Beine gestellt. Und nun heute das? Woher kam diese ganze destruktive Energie? Wenn es nun Enttäuschung gewesen war, dann würde der Konflikt in seiner Anatomie besser zu verstehen sein und nicht so unsinnig erscheinen. Vielleicht war Ali ja nicht zu hundert Prozent der Böse in diesem Streit.

Um halb vier Gespräch. Ja, sie hatten ein wenig gelästert. Fereba, die dabeigewesen war, bestätigte das. Es war Anna und Cherry nicht klar gewesen, was sie da machten. So Mädchensachen eben. Heute so, morgen so. Dagegen hatte Ali, enttäuscht,  rebelliert. Nicht auf die richtige Art, aber das Gefühl, das diese Handlungen gespeist hatte, wurde nun verständlich.

Um vier Uhr gingen wir. Ali war wieder die Ruhe selbst, es schien ihm gut zu tun, dass seine Empörung verstanden worden war. Die Mädchen müssen mehr Verantwortung übernehmen für das, was sie sagen und tun. Ihre Machtspiele funktionieren anders als die der Jungen, funktionieren aber auch sehr dezidiert.

Da war eine Annäherung missglückt und das Missglücken wurde energetisch zurück- und weitergegeben. Ich nehme an, dass Ali Sally als Beteiligte gesehen hatte und durch den Angriff auf den Bruder ihr etwas "zurückgeben" wollte.

Zum Schluss war ich aber froh, dass der Konflikt nachvollziehbar geworden war. Die Emotionen waren verständlich geworden, ebenfalls die gegenseitige reaktive Verstrickung, wenn auch einzelne Handlungen weiterhin kritikwürdig bleiben.
 

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