Anna sitzt heute etwas verstört vor mir. Ich frage sie, ob sie Ärger zu Hause hat. Das ist manchmal so. Dann erzählt sie mir, dass sie woanders war und was sie dort gesehen und erlebt hat und es ist sehr verstörend. Mir wird ganz bedrückend im Bauch, als sie erzählt. Es betrifft die Situation der Kinder in der Familie, wo sie gewesen war.
Jugendamt? Es war schon ein Herr dagewesen, der hat uns die lange Nase gezeigt, fand uns wohl überkandidelt, so behandelte er die Lehrerinnen. Was also tun? Ist ja alles auch nur aus 2. Hand. Doch ich glaube ihr. Aber ich will auch nicht, dass sie in den Fokus gerät und schlechte Erfahrungen damit macht, dass sie sich anvertraute.
Mit der Kooperation der Familie ist nicht zu rechnen. Was also tun? Ich führe ein Gespräch mit meiner Schulleitung, habe mir vorgenommen, es erst einmal genau aufzuschreiben. Dann ein Anruf im Jugendamt, dass ich eine Beratung benötige. Oder bei der Kindernothilfe? Die stehen doch auf seiten der Kinder. Ist das nicht eine sozusagen klassische Situation? Geht das nicht vielen Lehrern so, die helfen wollen? Wie geht man damit um? Die drei Kinder der Familie müssten durch eine Erziehungshilfe vor Willkür und Vernachlässigung geschützt werden. Dem stimmt aber die Sorgeberechtigte nicht zu, das hatten wir schon.
Na ja, ich schreibe es erst einmal auf. Dann werde ich überlegen, ob ich die Mutter einlade und sie mit den Wahrnehmungen des Mädchens vertraut mache. Aber ich will auch nicht, dass dieses Mädchen in Schwierigkeiten kommt.

Erster Tag von Kerstins Praktikum. Sie war vor zwei Jahren schon da und möchte noch einmal ein Praktikum bei uns machen. Wir unterhalten uns sehr gut und freuen uns, dass wir wieder miteinander zu tun haben. Sie  muss eine Unterrichtseinheit planen und durchführen, bekommt auch Dozentenbesuch dabei. Ich sage ihr, dass ich kein Didaktikgenie bin, weil mir das alles zu enggeführt ist, so L macht dies, SS machen das etc. Das ist mir zu behaviouristisch, zu sehr Pawlowscher Hund, für mich nicht erträglich. Ich sage ihr meine Grenzen. Will nicht, dass sie zu viel von mir erwartet. Aber ihr ist das nichts Neues, sie kennt das schon. Doch ist es einfacher, wenn es um das Orientierungspraktikum geht. Ich liege auf Kriegsfuß mit dieser traditionellen Didaktik, sie ist so kontrollsüchtig und verunmöglicht damit das Beste, was es in Schule gibt, offene, sachbezogene Interaktion. Aber Kerstin weiß darum.

Wir haben wieder eine Fragestunde in Sexualkunde.
-Warum stöhnen Frauen beim Sex und Männer nicht?
"Woher wollt Ihr wissen, dass sie das tun?" Na ja, bei offenem Fenster im Sommer und so oder Filme.
-Was ist "Ficken"?
-Was ist ein Porno?
-Hattest Du schon mal Liebeskummer und wie war das da?
-Wieso hängen auf Toiletten Kondomautomaten?
-Ich habe in einem Laden einmal Kondome gesehen, die sollten Geschmack haben, Banane und so, WIESO DENN DAS???
.....usw. usw.

Es geht gut, darüber zu sprechen. Freikörperkultur. FKK.Schwulsein. Männer, die wie Frauen sich benehmen. Nur Mesut musste ich rausschmeißen, er fing an, sich wichtig zu machen und vernehmlich von "Arschficken" zu reden. Grenze.
Aber wir sind ja überhaupt mit Gesprächen gut in Übung.

Danach nochmal Rechtschreiben. Mit Kerstin zusammen geht es sogar, ein bisschen in unterschiedlichen Bahnen zu arbeiten. Also, zu differenzieren. (Zwei Förderlehrer krank)Drei Förderkinder arbeiten an ihrem Stoff ganz intensiv zusammen. Ich diktiere ein Prüfungsdiktat fertig. Wieviel man von den beiden Mädchen mitbekommt, wie sie schreiben, wie sie sich verbessern. Wunderbar. Die anderen üben oder diktieren sich gegenseitig.Mesut sitzt nachher noch mit dem Wörterbuch an seinem Prüfungstext und verbessert. Hmmh! Sahne! :D

Danach das Gespräch mit Kerstin, wir sammeln Ideen für ihr Praktikum. Sie sagt, die Klasse habe sich sehr gut entwickelt, man würde die Arbeit spüren, die darinnen steckt. Das ist schön zu hören.
Zum Schluss ordnen eine Kollegin und ich noch Webrahmen und bereiten vor, dass sie in der nächsten Woche mit einer Klasse weben kann. Es ist erstaunlich, meint sie, wieso so wenig von Hand in der Schule gearbeitet wird, sie meint sticken, häkeln, nähen, laubsägen.
Ja, das frage ich mich auch immer.
Bastian hatte heute seinen guten Tag. Er war sehr witzig, spielte sich zwar oft in den Vordergrund, aber nahm sich auch streckenweise zurück.
Um 15 Uhr war ich zu Hause, nun erst einmal entspannen...