Mittwoch, 22. August 2012

Das Nein des Vaters und das BrreBrre

Ein Vier-Schulstunden-Tag war es heute. Wie ich mir das gewünscht habe. Die ersten beiden Stunden waren frei. Ich war um kurz nach 7 Uhr da, weil ich heute Nacht nicht schlafen konnte, wohl ein innerer Nach-Tumult der gestrigen Dienstbesprechung. 
Ich sprach nur mit einer Kollegin heute, wir trafen uns kurz vor dem Waschbecken der Lehrerinnentoilette, ihr ging's genauso.
Keine gute Startbedingung. Ruhig bleiben, Minna, MantraMantraMantra.
Vor 8 Uhr lüftete ich den Klassenraum, fütterte die Fische, prüfte die Temperatur im Aquarium und wollte die jetzt trockenen Drucke von gestern abhängen, aber sie hängen immer noch. Schrieb den Tagesplan an, dann kamen die Kinder. 
Zu Beginn der Englischstunde ging ich hinunter in mein Wollkabuff, das nun auch mein Arbeitszimmer geworden ist.


 Ich muss noch die Briefkopien von gestern unter die Leute bringen. Das dauert seine Zeit. Erzieherin, Schulleitungskollegin, Jugendamtsbetreuerin, mit der ich guten Kontakt in den letzten Monaten hatte, als wir Alis Integrative Lese-und Rechtschreibtherapie in die Wege leiteten. Sie soll das auch wissen. Und, verdammt, ich hänge es in den Schülerbogen rein. Niemand hindert mich, es, wenn alles besser wird, herauszunehmen, aber wenn es nicht besser wird, erspare ich der neuen Schule Monate des Herumstocherns in unbekanntem Gelände. Verhalten muss auch Folgen haben. Weil dies zu wenig so ist, nehmen uns die Schüler so gerne mal hoch.
Ich würde das gern anders machen. Doch finde ich, das Sprichwort "Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil" hat auch seine Wahrheit. Wenn die Schüler also als grober Klotz in meinen Wald hineinrufen, dann schallt es als grober Keil zu ihnen heraus. Eine schmerzvoll verdrehte Metaphorik, ich weiß, aber es ist DIE schmerzvolle Erkenntnis der letzten 15 Jahre. Ich kann das aber. 



Ich weiß, dass Kollegen verzweifeln, weil sie sich von den mittelschichtorientierten Verhaltensstereotypen nicht gern lösen möchten, aber wenn es denn sein muss, dann gebe ich auch gern mal das harte "Non du Père" gegen das butterweiche Jein der alleinerziehenden Mütter.
Unsere Sekretärin forschte bei der Schule von Alis Bruder nach, ob der Bruder am Montag zur Schule gekommen war. So viel zum Thema Glaubwürdigkeit und Bauchweh. Ein Ergebnis haben wir noch nicht.
In den ersten beiden Stunden schaffte ich die Korrektur der Matheblätter und vermerkte bei meinen Fortschrittslisten positiv, wer selbst kontrolliert hatte. Das Material lässt das ja zu, das ist sehr gut.

Beim Korrigieren kommen mir meist die besten Unterrichts- und Förderideen für die unterschiedlichen Lernstände und je mehr das Bild vollständig wird, desto sicherer fühle ich mich, nicht im Dunklen zu stochern. So ist der Rückkopplungsprozess mit den Schülern auch fundierter. Man will die Kinder  ja aktivieren, zum Selbergehen bringen, was geistige Tätigkeiten angeht. Da müssen sie schon das Gefühl haben, dass etwas von ihnen erkannt wird. Sonst können sie es nicht mit ihren Eindrücken von sich selbst verknüpfen und halten es für pädagogisches Gelaber.
Es ist im Grunde alles dialogisch. Also mache ich mir die Arbeit. Es lohnt sich.
Mario hat als einziger ALLES selbst kontrolliert, und zwar richtig. Als ich das der Klasse vortrage, applaudieren sie aus eigenem Antrieb.
Andere erhalten auch eine Antwort auf ihre Arbeiten und sie sehen, dass ich das akribisch notiere. Es ergibt sich auch, wo verbessert, nachgefasst, gefördert werden muss. Ein gutes Gefühl.


Ich stehe vor der Tafel und blicke zufällig in die Mülleimer und was tut sich da? Im gelben Eimer liegen zwei Papiertüten und eine angebissene Stulle!
Die Klasse bekommt meine Unausgeschlafenheit ab. Zwei Stufen geduldiger und sanfter käme ich zum gleichen Ergebnis und die Stimmung wäre nicht so angekratzt. Mein Fehler. Die Übeltäter sind Mesut und Tobi und sie kriegen ziemlich was zu hören. Als Mesut dann noch sagt, er möchte vor Schulschluss gehen, weil er zum Arzt müsse, reißt der nicht gut gedrehte Geduldsfaden. Ich herrsche ihn an, warum er nicht Termine macht, die außerhalb der Unterrichtszeit liegen....Es stellt sich dann heraus, dass er sich vertan hat, auf dem Zettel steht ganz brav der Wunsch nach Beurlaubung nach der Unterrichtszeit. Wir sind eine Ganztagsschule, es ist Anwesenheitspflicht bis 16 Uhr. Ich will das nicht verteidigen, aber es ist so beschlossen. Ich hatte im übrigen dagegen gestimmt.
Wir bemerken den Fehler und entschuldigen uns wortreich und wechselseitig beieinander, er bei mir, ich bei ihm und sind uns kein bisschen böse, zum Glück. Nun suche ich eine Strafe für die beiden und sage, sie sollten vielleicht mit den Eimern und den Greifern den Hof säubern, damit sie die Wirkungen falsch platzierten Mülls als Wiedergutmachung beseitigen helfen.
Da interveniert lautstark Messi, er WILL das UNBEDINGT machen, das ist soo schön, er macht eine Show, er macht mir meine Strafe kaputt, er macht sich lustig. Da schneide ich ihm das Wort ab und sage, er soll still sein, wenn ich mit den beiden etwas regele. Höre, wie er halblaut zischt:"Deutsche!"
Er steht nicht dazu. Ich habe es aber gehört. Vor seinen Augen reagiert niemand, alle sind gespannt. 

Selena würde niemals etwas gegen Messie sagen, selbst, als er draußen ist, hat sie nichts gehört, obwohl sie ganz nah dabei sitzt. Ich bin mir so sicher. Etwas unsicher bestätigen links und rechts zwei Kinder, dass sie dieses auch gehört haben.
Der Unterricht geht weiter. Messi ist draußen. "Messi, wir müssen reden." "Ich hab das nicht gesagt, ich hab gesagt Ahh!" ----- "Na guuut, dann haaaab ich's gesaaagt." Das klingt jetzt so: Du hast mich gezwungen zu sagen, was Du willst, das ich gesagt haben soll. Noch zehn Minuten, dann gibt er es richtig zu. Angst hat er, riesengroße Angst.
Ich weiß nicht, was ich machen soll. Sage ihm, dass ich verletzt bin, was er denken würde, falls ich sagte: Türke!! Dann würde er sich rassistisch beleidigt fühlen, nicht wahr? Mit Recht. Er hatte vor drei Jahren am ersten Tag ein Kind als "Kartoffel" beschimpft. Ich lass es mal so stehen. Wir gehen beide wieder hinein.
Das war die kleine Pause gewesen. Danach basteln alle ein Bundesländer-Hauptstädte-Memory zum Üben und spielen später damit und miteinander.


Cherii hatte schon ein Memory selbst zu Hause angefertigt, mit bunten Wappen, sie spielt mit Selena damit, beide arbeiten dann an ihrem Seehundereferat weiter.
Wir schauen einen Film über Marathon, die Griechen und die Perser und den armen Läufer, man bekommt eine Menge über das antike Griechenland mit. Wer mit Memory-Basteln noch nicht fertig ist, geht zu Gabriele in den Freizeitraum und beendet die Arbeit, wir anderen schauen uns den Film an. Nach und nach kommen die anderen Kinder dazu, bis alle fertig sind.  Ali hat ganz hingebungsvoll sein Memory gebastelt, sein Verhalten ist aktiv, umsichtig, unterrichtsbezogen und vollkommen störungsfrei und das über vier Stunden und während der 40 Minuten des Films!!! Um ihm zu zeigen, dass es bemerkt worden ist, gebe ich allen Kindern am Ende des Schultages eine kleine Meinung, wie ihre Beteiligung, ihr Arbeiten auf mich gewirkt hat.
Wir spielen noch mit dem Memory, die Kinder schauen dabei oft in den Atlas, wollen sehen, wo die Bundesländer und Hauptstädte auf der Karte liegen. Ich spiele mit Pablo. Es macht Freude. Er gewinnt. Er schenkt mir ein Bonbon und ich nehme es sehr gern an.
Zum Ende des Schultages sprechen wir noch über den Inhalt des Films, die Welt der antiken Griechen, auch über Zeitrechnungen. 500 vor Christus - welches Jahr ist das im islamischen Kalender? Müsste es nicht vor 1900 Jahren sein? Oder bin ich schon zu müde, um richtig rechnen zu können? Wie auch immer, die geisteswissenschaftlich wichtige Erkenntnis ist, dass Zeitrechnungen "gemacht" sind, indem sie sich an einen kulturell/religiös bedeutsamen Ankerpunkt anketten. Der ist in jeder Kultur natürlich anders. Was an diesen Erwägungen wichtig ist? Gesellschaftliche Verhältnisse sind nicht vom Himmel gefallen, sie sind historisch bedeutsam von Menschen "gemacht", (und deshalb können Menschen sie auch ändern.)

Im übrigen spielten sich griechische Eroberungen und Kolonisierung weitgehend im Raum der heutigen Türkei ab. (Milet, Bergama, Troja) Dazu werden wir noch viel sehen, zum Beispiel beim Besuch des Pergamon-Altars. 

Die Bewohner Kleinasiens, deren Sprachen die Griechen abwertend mit Brr-Brr bezeichneten, wurden hierdurch zu "den BrreBrre, den Barbaren". Was heißt also "barbarisch"? Unzivilisiert, mit minderem Kulturstatus. Gewalttätig. Das ist immer eine Sichtweise, wo sich der Sprecher weiter oben ansiedelt. Dieses Herrenmenschendenken nach außen - nach innen war es die Sklavenhalter-Gesellschaft und die Abwertung des Weiblichen - muss doch auf die türkischen und arabischen Schüler Wirkungen haben. 

So wie ich als weibliches Wesen Abwertungen und Nichtanerkennung in unserer Männergesellschaft sofort erspüre, wird es ihnen auch so gehen, dass für sie die hoch geschätzten Errungenschaften, die ihnen so nolensvolens dargestellt werden, etwas Vergiftetes haben, weil es ihre Perspektive nicht widerspiegelt. 

So spiegelt sich eines am anderen und das ist unser Bildungskaleidoskop.-- Oder: Was heißt "spartanisch"? (Athen, Sparta, Mykene). 

Solche Puzzlestückchen setzen sich dann eins zum anderen immer differenzierter zusammen, so dass bei jedem der Kinder ein eigener Bildungsteppich mit besonderem Muster und besonderer Färbung entsteht. Wie spannend dieser Prozess des Sich-Bildens doch ist...!!!!

Ich hab auch noch einen Film über Nofretete. 

Dank der Amerika-Gedenkbibliothek, zu der wir am Freitag alle hingehen. Alle, außer Ali. Der muss in eine andere Klasse. Einige Anmeldezettel für Bibliotheksausweise bekam ich heute unterschrieben zurück, morgen bringe ich sie hin, am Freitag sind dann die Bibliotheksausweise fertiggestellt zum ersten Ausleihen.

Ali weiß das nicht zu schätzen. Daher geht er in dieser Zeit in die Parallelklasse. Le Non (Nom) du Père (Lacan). Vaternein ist anders als Mutternein.



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