Mittwoch, 10. April 2013

Ali meint.

Wenn alles so gut geht wie derzeit, lässt sich wenig darüber reden. Die Schüler und Schülerinnen gehen sehr humorvoll, empfindsam und achtsam miteinander um. Die Unterrichtsphasen sind höchstens deshalb anstrengend, weil man ständig auf mehreren Ebenen Reize empfängt und Reaktionen gibt, aber man sehr aufgeschlossen reagieren kann, weil die Atmosphäre herrlich unvergiftet und entspannt ist.

Um 8 Uhr bis fast um zehn habe ich Organisatorisches gemacht. Die Wollwerkstatt aufgeräumt, alles wieder an seinen  Platz zurückgelegt. Ein paar Kopien, eine Überweisung zur Schafhaltung, ein kleines Gespräch mit einer Kollegin. Das Prinzip "Offene Tür" ist sehr lohnend. Jemand bleibt stehen, kommt herein, man vertieft sich in ein Gespräch und - jetzt aber schnell, denn oben wartet ja die "eigentliche" Arbeit!

Anhand eines Textes beschäftigen wir uns in Naturwissenschaft mit Stoffen und ihren Eigenschaften. Die Materialien der Steinzeit, Knochen, Leder, Holz, Stein und Ton. Dann kommen die Metalle hinzu, Glas, nun die Kunststoffe.

Gold. Gold ist sehr biegsam. Aus 10 g Gold kann man einen Draht ziehen, der 25 000 m lang ist! Steht so da. Wie lang sind 25 000 m? 25 km. Von hier bis...? Vom Mehringdamm bis "Hauptbahnhof?" fragt Mario. "Bis zum Hauptbahnhof, das sind vielleicht 5 oder 6 km." Phhh. Also, von hier bis zur Stadtgrenze nach Norden, Frohnau, Henningsdorf so etwa. Großes Staunen. So weit??? Fünfmal um den Schlachtensee. Wir sind einmal da drumherumgelaufen.-

Deshalb dauern unsere Gespräche lang, d.h. wir sind eher  gründlich, es werden nicht so viele Fakten geklärt, aber einiges wird schon klarer durch die Veranschaulichungen. Und wird dadurch vielleicht auch behalten.

Viele Begriffe können wir klären, fossile Stoffe, beim Holz das Furnier, die Spanplatte, Baumarten und die Eigenschaften ihres Holzes. 

Peter sagt immer "Tanne", auch wenn man ihm ein Stück Birkenrinde hinhält. Er sagt stets "Tanne", wenn man nach irgendeiner Baumart fragt. O Tannenbaum, Peter!

Die Problematiken der Kunststoffabfälle sprechen wir an, die Herkunft des Kunststoffs, z.B. dass Kaugummi auch aus Erdöl hergestellt ist, versetzt mit Weichmachern und künstlichen Aromen, worauf Ali meint: "Ich kau nie mehr Kaugummi." Sehr viele Kinder sprechen aktiv mit. 

Einmal hat Hans nicht so aufgepasst und gibt eine Antwort auf eine nicht gestellte Frage. Zwei lachen und ich werde streng. Aus vielen Gründen kann man eine andere Antwort geben und - niemals! ist das ein Grund zum Lachen. Es ist einfach so. Man geht darüber hinweg. Es ist in Ordnung so. Es gehört dazu.

Wir sprechen eine halbe Stunde, sehr konzentriert mit sehr breiter Beteiligung und machen danach fast 15 Min Pause. Dabei haben wir mehrfach gelacht, aber niemals über jemanden.

Ich weiß nicht, wie das kommt, aber mit den Jahren gelingt es mir immer besser, öfter die Klasse zum Lachen zu bringen. Das tut gut und macht die Aufnahme und Auseinandersetzung mit den Inhalten leichter. Ich leg es oft extra drauf an, dass wir lachen oder schmunzeln und es gibt ja auch im so genannten Leben viele Verrücktheiten, über die man schmunzeln kann. Miteinander lachen ist schön. Doch nie auf Kosten einer Person.

Übrigens: Lachen. Ich vermisse ihn, seinen Humor und sein Lachen. Wenn er da ist, lachen wir noch viel mehr. Als ich es anspreche, kommen viele Reaktionen. Er fehlt, wenn er nicht da ist. Seine Kur dauert bis Ende April. Dann haben wir Bastian wieder! Dann war er fast drei Monate weg!

Die großen Kinder haben nicht mehr das Bewegungsbedürfnis der Kleinen. Sie stehen oder sitzen zusammen und unterhalten sich. Danach machen wir in den schönen erdkundlichen Heften weiter, die jeden zwingen, hundertmal im Atlas zu schauen und die richtige Seite zu finden. Wo liegt Ibiza? Ich hab's noch nie gewusst. Schau im Register nach! 

Man hilft sich gegenseitig. Eine Gruppe geht in den Freizeitraum. Sie sind später wirklich noch am Arbeiten! 

 
Es ist "Erntezeit". In drei Monaten sind wir auseinander. So große Personen sind wir geworden! "Kinder" kann man kaum mehr sagen. Und so viel Vernunft ist schon im Spiel.

Kinder müssen, wenn sie älter werden, an Vernunft und an Einsicht zunehmen. Sonst hat die Schule etwas falsch gemacht.

Bei der letzten Klasse wurde mir das erst richtig bewusst: Wie mit zunehmendem Alter alles besser wurde. Das ist gut so. Wenn meine Kinder jetzt im letzten halben Jahr nur Blödsinn machen würden, müsste ich mich fragen, was da, auch durch mich, verkehrt gelaufen ist.

Diese Klasse damals war ein absoluter Horrorhaufen. Man verzeihe mir, aber es war so. Dann kam heraus, dass ein Schüler zusammen mit zwei anderen die ganze Klasse erpresste, schlug, unterdrückte.

Die Schulleitung war sehr konsequent. Der Schüler verließ die Schule. Von da an ging ein Aufatmen durch die Klasse. Die Kinder wurden anders, lernten plötzlich besser, auch die beiden anderen veränderten sich. Einstmals stets völlig starre Mienen wurden beweglich, es gab Rückfragen, Verhandlungen um kleine Dinge, es entstanden Gespräche. Tauwetter.

Zum Schluss sagten alle an der Schule: Was ist denn mit ihnen los? Sie sind ja so brav. Den Schülern, und das wurde mir an dieser Klasse zum ersten Mal klar, war irgendetwas von ihrer Seele genommen, so, als sei etwas durchgepustet worden, sie wurden heiterer, sie gaben zu, dass es ihnen Freude machte, Dinge "richtig" zu machen, wo sie vorher sich wie kleine Gangster verhalten hatten.

In dieser Klasse habe ich so viel gelernt wie niemals zuvor. Auch Ali meint, er möchte es lieber streng haben. Er traut sich das nicht selbst zu, die Kontrolle zu übernehmen und empfindet es, wenn es mit Empathie und Aufmerksamkeit passiert, als eine Art Fürsorge, wenn er auf Grenzen stößt. Grenzen, die er  anerkennen kann. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Kinder mögen vernünftige Grenzen. Sie wollen sie verstehen und mittragen. Sie geben ihnen Sicherheit. Sie sind ein Ausdruck freundschaftlicher Anteilnahme der Erwachsenen für sie. Die Atmosphäre muss aber auch stimmen. Kinder wollen spüren, dass sie wahrgenommen und wertgeschätzt werden. 

Dann sind Kinder sehr gerecht zueinander und verzichten auch gern einmal auf einen unmittelbaren Vorteil.
Das macht sie so sympathisch und so anders als viele Erwachsene. ;) Das macht den Umgang mit Kindern so schön.

Übrigens hatte dieser Junge, den wir aus der Klasse ausschließen mussten, auch nach einem Klassengespräch im 4. Schuljahr mit vielen Beispielen über die Frage: Was ist Gewissen? Als ich einmal ein gutes/schlechtes Gewissen hatte....nichts schreiben können. Er hatte geschrieben: Ich mag meine Familie.- Er hatte es nicht verstanden. Die seelische Instanz "Gewissen" fehlte ihm völlig. Sie war einfach nicht vorhanden. Das hatte auch seine Gründe. Der Vater war schwach und als Erzieher nicht vorhanden. Die Mutter ließ ihm alles durchgehen. Er bekam niemals ein "Nein". Alles was er tat, war gut, egal, ob jemand zu Schaden kam. 

Der Junge "flog" später aus der therapeutischen Gruppe hinaus, in der er dann zur Schule ging, mit extra geschulten Betreuern und einer Klassenstärke von 8 Kindern. Aus Gründen manifester Gewalt, die er ausübte.

Das war damals mehr so durch Zufall entstanden, aber seitdem führe ich in jeder meiner Klassen so im 5. Schuljahr ein Gespräch über den Begriff des Gewissens  und lasse schreiben, merke ziemlich genau, ob das Kind verstanden hat, was gemeint ist. Dann ist es auf dieser Ebene ansprechbar. Das ist wichtig für die Gespräche im Fall von Konflikten. Man weiß dann besser, ob das Kind in dieser Hinsicht ansprechbar ist oder nicht und kann das auch bei den Eltern ansprechen und, wenn es sein müsste, beim Jugendamt. Von 12 bis 16 kann noch viel passieren an regulierender Erziehung, danach ist es damit vorbei...

Eben rief eine Familienhelferin an, wir unterhielten uns. Es ist alles, schulisch gesehen, im Lot. Könnte nicht besser sein. Ihre Arbeit bringt Ruhe in die betreffende Familie. Das wirkt sich positiv auf das Kind aus.

Auch, wenn die Dinge gut laufen, das merke ich jetzt schon, lässt sich eine Menge erzählen. Es gibt ja auch Gründe, warum.
 
So, und jetzt häng ich die Schule mal wirklich ab!  




Das stellte sich heute heraus: Hierüber müsste noch Klarheit geschaffen werden: Landschaftsformen. Ach, im Botanischen Garten und im Tropenhaus waren wir auch noch nicht! 


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Über dem Eingang des Botanischen Gartens steht ein Spruch:


Habe Ehrfurcht 
vor der Pflanze!
Alles lebt durch sie.

Diesen Gedanken mag ich sehr.

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