Dienstag, 3. April 2012

Gibt's das auch als Film?

Vor den Osterferien teile ich ein Buch als Ferienlektüre aus:


Es soll darin gelesen werden. Ob ich es als verpflichtend ansehen möchte, kann ich nicht sagen. Doch möchte ich empfehlen, darin während der Ferien zu lesen. Als Schülerin hatte ich einmal eine Ferienlektüre verweigert. Hatte der Deutschlehrerin gesagt, Ferien sind Ferien, Sie können mich gerne eine Woche nach Schulbeginn dazu abfragen, dann habe ich es gelesen, aber nicht in den Ferien. Es war der "Simplizissimus" von Grimmelshausen, der mir, weil er ein Streitobjekt geworden war, immer fremd geblieben ist. Vielleicht schade.
Als ich das Buch austeile, kommt aus der letzten "Bank" die Frage: "Gibt es das auch als Film?"
Wahrscheinlich wird die Form des Films als mehr authentisch empfunden gegenüber dem Buch.
Wir sind mit dem Buch aufgewachsen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Uns wurde immer gesagt: "Lies nicht so viel, Du verdirbst Dir die Augen!" Wir lasen überall, drinnen, draußen, abends nach dem Zubettgehen tatsächlich mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, wenn es sein musste.
Sicher las auch in unserer Generation nicht jeder und nicht jeder so viel, aber doch wuchsen alle mit dem Buch auf, in irgendeiner Form.
Heute wächst man mit dem Film auf. Jedenfalls in den Familien in meiner Gruppe. Wieviele Kinder in der Gruppe sind passionierte Leser? Leserinnen? Bei mir sind es von zwanzig Schülern zwei   Mädchen, die passioniert lesen. In unserer Familie war das Lesen bei beiden Kindern, Bruder und Schwester, Passion. Nicht so sehr bei den Eltern. Es war Fluchtmöglichkeit aus der beengenden Kleinstadt-UntereMittelschicht-Nachkriegsmentalitäts-Situation. Unsere Eltern waren in ihrer Kindheit noch vom Faschismus geprägt gewesen, ihr Umfeld ebenfalls, das war ein Teil der bedrückenden, gewaltgeprägten mentalen Enge der Fünfziger- und Sechziger Jahre und der Humus, in dem die Rebellion der 68er aufging, aufgehen musste. Es war Orientierung an anderen Lebensmustern als denen, die uns als die einzig möglichen und gültigen  präsentiert wurden, Ausflüge nach Utopia, in andere äußere und innere Welten jenseits der Enge, die wir erlebten. Insofern war Lesen Befreiung.
Was ist es heute? In der Lebenssituation meiner Schülerinnen und Schüler?
Unsere Freizeit damals war vom Draußensein in der Natur geprägt. Wir waren frei und unüberwacht  von Erwachsenenzwang in einem Maß, wie Kinder es heute nicht mehr kennen. Wir haben jeden Baum beklettert. Man kann sagen, die Bücher und die Natur, das waren unsere Freiheits- und Erfahrungsräume.
Einen Unterschied gibt es auch noch: Wir waren mental leer genug, um Inhalte aufzunehmen, sie uns einprägen zu lassen. Heute werden Zweijährige vor den Fernsehern geparkt. Die Zehnjährigen sind überfüllt mit Bilderreizen wie Stopfgänse mit Nudeln.
Da hat es so ein kleines Steinzeitbuch schon recht schwer.

Auch hier bleibt die Sonne nicht stehen: Die Welt entwickelt sich weiter. Doch fällt es schwer, diese Entwicklung nicht als <décadence> zu interpretieren, nicht als eine Rückentwicklung. Wieviel Mühe gibt man sich, damit Menschen lesen lernen? (Wer es will, lernt es schnell.) Und WAS lesen sie DANN?

Man sagt wohl, ein Bild teile mehr mit als tausend Worte. Aber nur, wenn man Bilder zu "lesen" versteht. Oder ist es nur so gemeint, dass wir uns als Adressanten, Objekte  von Werbebotschaften zu verstehen haben?

Wenn man aber Bilder zu lesen versteht, wenn man dem Bild als ein Subjekt gegenübersteht und es liest, dann hat man eine umfassende kulturhistorische Formung erfahren, eine literarische, ästhetische, psychologische, philosophische. Nur so kann man die Bedeutungsdimensionen, die ein Bild in sich trägt, interpretierend ausloten. Jahrzehnte der Bildung und Selbstbildung heben sich darin auf. Und zudem: Wir sprechen hier von nur einem Bild. Je mehr es werden, umso mehr werden wir Objekte, denen etwas eingeprägt wird, ohne dass sie es  annähernd verstehen könnten oder wollten - denn, wenn sie es nicht wollten, dann würden sie sich gegen eine Flut von Bildern wehren.

Wer Subjekt seiner Situation und seines mentalen Binnenhaushalts bleiben will, muss sich gegen Bilderfluten wehren, sie eindämmen.

Insbesondere Filme über Literatur habe ich immer vermieden, mir anzuschauen. Effi Briest zu lesen ist tausendmal schöner, als das filigrane Bedeutungsgewebe zusammengeschnurrt und amputiert  auf zwei Stunden zu sehen. 

Ebenso vergewaltigend empfinde ich, dass sich die Filmbilder an die Stelle der eigenen Empfindungsbilder setzen, sie quasi okkupierend überschreiben. Noch schlimmer, wenn man den Film VOR dem Lesen sähe: Dann haben die eigenen Bilder keine Chance mehr.
Zum Steinzeitbuch: Selbst, wenn es einen Film GÄBE, ich würde ihn nicht zeigen.

Was nicht heißt, dass ich mir nicht öfters einen Film ansehe, um lustvoll regressiv "abzukacken". Diesem Bedürfnis werden Filme nur allzu gut gerecht und das hat im Alltag ja auch seinen Sinn.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen