Montag, 3. Dezember 2012

Skylla und Charybdis

Jetzt sitzt man vor dem Heuhaufen der Tagesereignisse und weiß nicht, wo beginnen und wie. Es schreibt sich allerdings leichter, wenn die Dinge stachlig sind und nicht so glatt. Und - oha! - das waren sie heute in der Tat!

Muss nach der Schule als erstes schreiben, sonst weiß ich das alles nicht mehr. Und, wem würde das fehlen? Niemandem, außer mir.

Der nette und intensiv nachdenkliche Kommentar zum letzten Blogeintrag lässt mich wieder über das Warum nachdenken. Es ist eine Art von Flaschenpost, denke ich mir, ich erwarte keine Reaktion, aber schön ist es, wenn so eine Flaschenpost Antwort erhält. Es ist schon der Wunsch nach Austausch, der zum Schreiben eines Blogs motiviert. Aber unverdrossen schreibt man auch weiter, wenn nichts kommt. 

Für mich ist es ein Problem, dass meine Arbeit nach außen nicht sichtbar ist. Hier beneide ich Architekten....Ich möchte mich auch ansatzweise in meiner Arbeit spiegeln können, sie weiter entwickeln können, Schritt für Schritt, mit Unterstützung von außen oder ohne. Vielleicht kann ich auch aus meiner Haut als "Digital Immigrant" nicht heraus, dass es auch ohne Zuspruch gehen muss... Es ist eine Art Tagebuch. Und mehr, weil es nicht zu Hause im Regal liegt. Es birgt MÖGLICHKEITEN.

Von meinen Kolleg(inn)en weiß ich, dass "Abschalten" für Lehrer insgesamt ein Problem ist. Man wird oft den Arbeitsplatz nicht los. Durch das Schreiben "häute" ich mich von den Mühen des Tages. Danach ist es anders. Ich gehöre mir wieder. Besonders froh bin ich, dass ich keinen Lehrer als Lebenspartner habe. Man würde die Schule so nie ablegen können. Immer stünde irgendein Problem da, das nach Antwort schreit. 
 
Dieser Probleme gibt es viele: Ali hat mich heute nicht mehr beachtet, als ob ich ein Stuhl oder ein Tisch wäre. Peter hatte so ein gefährliches Glänzen in den Augen und redete andauernd mit Hans (Die Namen sind von den Kindern selbst so gewählt...), der dann Töne machte und sang, mitten in einer Erläuterung. Bastian ließ einen Segelflieger steigen, Ali und Bastian redeten in einem fort in meine Erläuterungen hinein, antworteten, ohne das Wort zu haben, überall waren Gespräche, nur nicht mit mir...  : /
Plumps!! Von Wolke Sieben sehr tief ins Modder gefallen. Da lag ich nun. Eine völlig neue Situation, jäh umgeschlagen von vollkommener Harmonie (Nach der man sich so sehnt, gefährlich!) ins absolut strukturlose Dickicht, wo man Schneisen schlagen muss, um den Kopf oben zu behalten. 
Ich weiß nicht, was es war. Nun, es ist so. Achterbahn.

Dabei fing alles so schön an: Komme heut früh in die Klasse und sehe eine ganz lieb vorbereitete Tafel:


Das waren Fereba, Lucy und Mesut gewesen. Ein schöner Empfang. Bin gerührt.
Aber was suchen denn die Geigen auf dem Sofa übers Wochenende? Üben die Mädchen nicht zu Hause? Am Wochenende ist doch wunderbar Gelegenheit dazu. Die große Karriere wird es so sicher nicht werden, denke ich und am Pult

"stolpere" ich über unser reaktiviertes Beschwerdebuch. Ein Zettel weist auf einen Eintrag hin.

Es gibt ein paar kleine Beschwerden, die schwer zu behandeln sind, weil heute niemand außer mir in der Klasse ist.
Doch: Gabriele kommt heute wieder!!! Sie ist nun wieder gesund und wir können unsere gemeinsame Arbeit fortsetzen. Darauf freue ich mich.

Heute ganz früh, zu Hause noch, hatte ich in dem Buch geblättert, das mir unsere Helferin in der Bibliothek gegeben hatte. Es ist ein Kinderbuch übers Sterben. Übermorgen, am Mittwoch, kommt die Schriftstellerin in unsere Schule und liest daraus. Zuerst fällt mir auf, dass sie immer das Perfekt benutzt: "Dann bin ich gegangen und dann habe ich dasunddas gemacht und dann sind wir und er hat gesagt..." Was ich nicht mag. Als Erzählzeit mag ich lieber das Präteritum, das ist klarer und fester und nicht so Wischiwaschi. Warum muss ein erwachsener Erzähler sich an Kindersprache angleichen? So haben unsere relativ illiteraten Kinder kein Vorbild für Erzählung im Präteritum. Es erinnert mich an den Stil der Christine Nöstlinger. Nach zwei Seiten muss ich aufhören.

Erschwerend kommt hinzu, dass da ein sehr netter Freund von Mama und Papa beschrieben wird, der sich ganz selbstverständlich an der Betreuung der Kinder beteiligt, auch, als Mama gestorben ist. Dieser Freund ist im Buch ganz selbstverständlich schwul. Das ist alles ganz selbstverständlich. So weit so gut. Damit habe ich kein Problem. Wohl aber, wie meine muslimischen Jungen reagieren werden, wenn sie das so vorgelesen bekommen. Sie werden diese Deutschen wieder für komplett nicht ernstzunehmende Spackos halten. Ich seh es voraus. Das wird nicht einfach werden.

Wir sind eine so genannte Brennpunktschule. Sie ist nicht voller Kinder, denen die Eltern stundenlang täglich vorerzählen, wie die Welt funktioniert und warum es gut ist, tolerant zu sein. Da wird wenig geredet zu Hause und bei vielen erzieht die Straße ordentlich mit. Mit unguten Gefühlen sehe ich dem Mittwoch entgegen. Eigentlich hatte ich in dem Buch geblättert, weil ich gern etwas hatte vorlesen wollen, zur Einstimmung. Aber dann lasse ich das doch lieber sein. Sonst sind sie alle schon vorher dagegen.

Beim Vertretungsplan sehe ich dann, dass wir am Mittwoch zum Schulzahnarzt müssen. Das überschneidet sich mit der Lesung. Unser Konrektor tauscht den Termin und eröffnet mir, dass wir morgen, am Dienstag gehen sollen.

Ich kriege immer schon die Krätze vor Ärger, wenn ich daran denke, dass der Schulzahnarzt samt Sprechstundenhilfe bequem in seinem überheizten Labörchen sitzt, während vierhundert Kinder, also fast zwanzig Klassen zu ihm hingeführt werden, was pro Klasse und Weg insgesamt mit Untersuchung etwa drei Unterrichtsstunden Ausfall bedeutet.
So wenig wichtig ist denen allen die Schule und was wir machen. Der soll seine Haken und seine Akten in Koffer packen und zu uns kommen!!! Mit Verlaub: Früher WAR das auch so. Er bekam einen Raum, da breitete er sich mit seinen Sachen aus, die Schüler wurden hingeführt, das dauerte eine Schulstunde statt deren drei.
Und jetzt soll unser schöner Dienstag DESWEGEN flachfallen? Es grummelt in mir. Ich rufe jetzt Kerstin an, Matti und Sevda, ich rufe Thekla an und sage allen: Sorry, wir müssen zum Schulzahnarzt, ihr könnt morgen nicht kommen?

Er hatte ein Einsehen, unser Konrektor und hat uns unseren Dienstag gelassen. DANKE!!! Aber jetzt müssen wir am Freitag. Grummelgrummel.

Da liegt auf dem Lehrertisch ein Brief, ein Brief der vertretenden Erzieherin vom Freitag. Dort steht, dass einige Mädchen, besonders XX, sie  in dieser Weise behandelt haben: XX: "Hier riecht es schlecht..!" Als sie geht, um etwas zu holen: "Jetzt kann ich wieder atmen, jetzt riecht es wieder besser hier." Als sie mit ihr reden will, sagt XX:"Das geht nicht, ich verstehe nur Menschensprache."  

Sie will, dass ich ihr helfe. Das tue ich dann auch. Nach den ersten beiden Stunden habe ich eigentlich zwei Stunden frei, wollte korrigieren, aber nun läuft wieder das SherlockHolmesDings, höre ich mir XXens Version an, lese ihr den Brief vor und frage sie an allen Stellen, ob das so war. "Nein," sagt sie, das habe sie alles nicht gesagt. Und bleibt dabei.

Nun müssen wir da durch: Einzeln befrage ich die anderen Mädchen und es stellt sich heraus: Sie HAT alle diese Dinge gesagt. Das ist schon dreist, so zu lügen! Woran auch nicht zu zweifeln war, aber ich muss es beweisen können, sonst habe ich einen schlechten Stand bei der Mutter des Mädchens. Wieder XX konfrontiert mit den Aussagen der anderen Mädchen, sie beginnt zu weinen. So weit, so schlecht.

Noch schnell die Päckchen vom Adventskalender gepackt, heute früh bei Edeka hatte ich alle Zutatenlisten gelesen. Haribo kannst Du nicht kaufen, überall Gelatine drin. Das hat vielleicht eine halbe Stunde gedauert. Will nicht zweifelhaftes Zeug einpacken. Wir sind zu vier Fünfteln Muslime. Maoam geht nicht. Mamba schon. Colorado geht nicht. Die Schlümpfe schon.
Dann waren die beiden Stunden um, ich hatte Aufsicht. Mache die Aufsicht, räume meine Sachen GANZ SCHNELL um für die neuen Stunden und komme hoch. Alle Kinder vor der verschlossenen Tür, und einer ist am Kopf verletzt.

Ich bin nicht damit einverstanden, dass wir die Pausenaufsichten abgeschafft haben. Wenn man selbst Aufsicht hatte, kann man nicht pünktlich oben sein, und heute war Peter im Galopp in den ahnungslosen Tobi absichtsvoll hineingerannt, der schlug mit dem Kopf an die Wand und war danach benommen.
Erstmal Peter zur Schnecke gemacht, ich war so hilflos. Ich HASSE Situationen, wo man es nicht mehr richtig machen KANN! 

Mit Peter im Schlepptau durch die Schule gejachtert, um eine Klasse zu finden, wo ich ihn mit Arbeiten lassen kann. "WILL DICH JETZT NICHT SEHEN!"

In Frankreich haben sie externe Pausenaufsichten. Aber Frankreich ist von Moodys ja gerade herabgestuft worden...
Was ist mit Tobi?? OH, die ARME Mutter!! Die arbeitet sich als Zahnarzthelferin den ganzen Tag lang  krumm und jetzt kann sie auch noch zusätzlich mit Tobi zum Arzt gehen, weil Peter (!) ihr das eingebrockt hat. Der ließ meine ganzen Vorwürfe und Erregtheiten sehr cool an sich abgleiten, was mich nur noch mehr gegen ihn in Rage brachte. Er zeigte keine Reaktion, geschweige denn Einfühlung. Nichts, Null.
Wir rufen Tobis Mutter an. Sie holt ihn ab. Ich trage Peter auf, Tobi und seiner Mutter einen Brief zu schreiben. Den will ich morgen sehen. Sonst sitzt er nach. Auch XX soll sich Gedanken machen.

Wir kriegen noch irgendwie die Wortartenbestimmung hin, aber es läuft nicht so richtig gut. Messi und Hans drucken noch etwas vom letzten Dienstag fertig.



Die Wortarten sind jetzt alle bekannt. Nun müssen wir die Bestimmung an vielen Beispielen üben. Ihr werdet sehen, das macht Freude, wenn Ihr Euch erst fit dabei fühlt!! So tasten wir uns schon an die nächste Klassenarbeit in Deutsch heran, und - oh! Die erste ist noch nicht korrigiert. Werde bald schlaflose Nächte haben deswegen.

Meine Arbeitszeitüberlegungen entwickeln Stacheln an der Rückseite. Ich hatte meine Stunden schon abgeleistet. Mit Ferienausgleich. Doch die Korrekturen, die liegen bleiben, das wird jetzt immer mehr. Das drückt auch. Oder ich mache es zusätzlich, dann habe ich keine Freizeit für mich. Die aber brauche ich, um für die nächsten - wie sagt man so schön - Herausforderungen wieder seelisch elastisch und innen drin frisch zu sein.
Es ist wie bei Odysseus mit Skylla und Charybdis. Man hat zwischen zwei schlechten Möglichkeiten zu wählen und damit muss man dann klarkommen. 
Er wählte Skylla. Ich auch.

6 Kommentare:

  1. Liebe Minna,

    die ersten drei, vier Abschnitte deines Blogs habe ich gerne gelesen, danach bin ich (da fachfremd) ausgestiegen und habe nur deinen letzten Abschnitt wieder gelesen.

    Ich verstehe, dass Du hier deinen Arbeitsalltag verarbeiten willst und das finde ich gut - vor allem dann, wenn es Dir gut tut.

    Aber mir würden so viele Dinge einfallen, die auch eine breite Bevölkerung interessieren sollten und bei denen Du eine große Hilfe sein könntest:

    Nur um drei Beispiele zu nennen:

    1. Integration: Erlebnisse, Maßnahmen, gemeinsame Aktivitäten
    2. Die moderne Schule / Lehrmethoden: wie setzt man moderne Instrumente wie khanacademy.org oder duolingo.com im Unterricht ein? Macht das Sinn?
    3. Gamification (="Dinge, wie Spiele gestalten") im Einsatz in der Klasse / zur Bildung

    Vielleicht ist ja auch etwas für Dich dabei ;-)

    Liebe Grüße,
    Alper

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    1. Lieber Alper,

      herzlichen Dank für Deinen Kommentar, die Anregungen und die Zeit, die Du Dir dafür nimmst!

      Ich verstehe gut, dass ich allerhand verbessern könnte und dass das vielleicht sinnvoll wäre, doch: Ich möchte meine Gedanken auch erst einmal fließen lassen und sehen, wohin es mich führt. Mich nicht in eine Art Korsett von eigener oder fremder Erwartung pressen, sondern im Gehen schauen, wohin der Weg mich führt. Das hat etwas Spielerisches für mich, etwas von Exploration, von Neuland betreten.

      Sicher freut mich jede Anteilnahme, aber ich WILL NICHT EFFEKTIV sein!!

      Vielleicht wirkt das, was ich mache, etwas ältlich und nicht modern auf Dich, sozusagen wie pädagogische "Kreidezeit".

      Aber ich finde gemeinsames Denken, gemeinsame Gespräche, eminent wichtig und sie fehlen den Kindern SEHR!

      Erwachsene, die sie ernst zu nehmen versuchen, gerne Zeit mit ihnen verbringen, sie anhören und ihnen geduldig auseinandersetzen, wie sie die Welt interpretieren.

      Wenn ich Lernspiele sehe, dann sind die oft so doof gemacht, dass ich mich als Kind eher schämen würde; wenn Du was richtig gemacht hast, ertönt ewig derselbe aufgedrehte Ton - und dann ist man am Computer allein.

      Man lacht nicht zusammen und lernt nicht aus den Fehlern der anderen und den eigenen, die man gemeinsam wahrnimmt.

      "Mein" ältester Schüler ist heute 44 Jahre alt. Ich habe schon manche Zeitströmungen mitgemacht. Und ehrlich: Die wichtigsten Sachen, die lassen sich (glücklicherweise) nicht algorithmisieren und nicht digitalisieren.

      Eigentlich ist mein Blog auch der Versuch eines Kommentars zum Evaluationswahn, der seit einem Jahrzehnt unsere Schulen heimsucht....

      Wie gesagt: Vielen Dank für Deinen Kommentar und die Gedanken! Sie sind mir wichtig und bedeutsam, aber ich glaube, dass wir da nicht übereinstimmen, und das muss ja auch gar nicht so sein, nicht wahr?

      Liebe Grüße
      Minna


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  2. WOW,Minna da erzählt dir aber mal jemand was!!!!
    Also ich fand vieles verständlich,einiges aber auch nicht.
    Ist nicht so schlimm,nimm es dir nicht so zu Herzen.......

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    1. Hallo Scherii,

      ich hab mich sehr über den Kommentar gefreut, das hab ich Dir ja schon heute in der Schule erzählt. Das sind Anregungen, die sind sehr wertvoll und wichtig. Und wenn mir jemand was erzählt, dann ist das ganz, ganz toll!
      Und: DANKE für's Lesen <3 und Deine Kommentare!

      Liebe Grüße
      Minna

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  3. Eine Frage noch.....
    Wer ist Alper Aslan???

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    1. Hallo Scherii,

      wenn Du auf meinen Twitter-Account gehst, dann kriegst Du ganz viel über Alper Aslan heraus. Von daher kenne ich ihn. Er ist genauso lebendig mit dem Denken an allen Sachen dran wie Du, Scherii!!

      Tschüs, bis dann!
      Ich guck mal bei Dir nach, was Du so machst! ; )

      Liebe Grüße Minna

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