Samstag, 19. Dezember 2015

"Sei doch nicht so empfindlich!"

Ich hätte schreiben sollen:

"Liebe manche Eltern". Denn es sind einige wenige. Das schrieb ich schon. 

Die Mehrzahl der Schülereltern ist sehr kooperativ, hat den Blick für das Ganze und nicht nur für das eigene Kind, steuert immer wieder wichtige Ideen und Anregungen bei oder bietet eigene Aktionen in der Klasse an, schreibt mails oder SMSse, macht Vorschläge, besorgt das Nikolauskostüm......

Die Mehrzahl der Eltern führt ausgesprochen offene und konstruktive Gespräche, die sehr gut die darauf folgende Arbeit begleiten, und die hatten den Brief im Post gestern gestern nicht verdient. Ich hoffe, sie haben das gespürt.

Einige Eltern räumten blitzeschnell das Buffet und die Kaffetafel auf, fegten den Boden, stellten alles Geschirr spülmaschinengerecht hin, so dass beim Gehen alles wieder aufgeräumt war. 

Ich hatte mehrere Impulse, den Post zu löschen, denn ich möchte nicht, dass diese Eltern an der Lehrerin ihres Kindes anfangen zu zweifeln.

Vielleicht habe ich angefangen, darüber zu sprechen, was mich belastet, weil ich nicht mehr lange Lehrerin bin.

Diese Dinge kenne ich nun seit etwa 15 bis 20 Jahren. Vorher war das nicht so.

Es gab immer engagierte Eltern und solche, die die Schule eher hinnahmen, aber ich fühlte mich als Lehrerin von allen immer in meiner Berufsrolle respektiert.

Seit etwa 15 Jahren ist das schleichend anders geworden. Es ist also nicht nur, was auf dem letzten Fest zu beobachten war. Im Gespräch hört man immer wieder, dass es anderen Lehrer*innen auch so geht. 

Sie sagen aber immer: "Reg Dich nicht auf, Du kannst es doch nicht ändern."

Ich will's nicht wiederholen. Aber ich meine, wir sollten uns alle gegeneinander respektvoll verhalten. Und wenn ich sage alle, dann meine ich alle, also jede(n), ob erwachsen oder nicht.
Dazu ist in jedem Moment Gelegenheit.

Eigentlich bin ich froh, dass ich nicht so eine taffe Person geworden bin, wie es die Leute vielleicht im Kopf hatten, die seit meiner Kindheit immer zu mir sagten: "Sei nicht so empfindlich!"

Dieser Spruch zog sich durch mein ganzes Leben und ich denke, dass er dann so eine Art Wegscheide wurde: Wer ihn aussprach, trennte sich von mir, war mir nicht wirklich verbunden. Wir hatten zu wenig gemeinsamen mentalen Boden unter den Füßen, um miteinander weiterzumachen. Soweit die private Seite. Bis ich das begriffen hatte, war ich schon in meinen Vierzigern.
Im Beruf ist das anders. Klar. Da muss man dann Wege suchen.

Exkurs:
Wege. Das erinnert mich an eine Philosophievorlesung aus den Achtzigern: Es ging um Eros, gemeinhin der Gott der Liebe. Der Eros teilt sich in zwei Sphären ein, das, was wir meist als seine Sphäre betrachten, die begehrende, erotische Liebe zu einem anderen Wesen, aber auch in eine generalisierte Liebe zum Anderen ohne körperliche oder seelische Begehrensaspekte, die Agapé, lateinisch Caritas genannt.

Und der Eros, wenn ich mich recht erinnere, der immer als ein kleiner dicklicher, nackter Kerl mit Pfeil und Bogen dargestellt wird, der hat Eltern, und die sind:

Poros und Penia.

Poros ist der "Wegefinder". Man kennt das Wort von der Pore in der Haut. Also der findet Wege, wo erst einmal keine sichtbar sind.
Eine tolle Eigenschaft!!!

Die Mutter, die Penia, das ist übersetzt die Armut.
Die Agapé, die Caritas, die uneigennützige Liebe zum anderen Menschen, dieser Aspekt des Eros, ist also geboren, enstanden, aus Poros und Penia, aus dem unermüdlichen Suchen nach (neuen) Wegen und aus der Armut, der Not, die zur Veränderung zwingt.
Exkurs Ende.

Ich bin empfindlich. Klar. Dadurch bekomme ich aber auch eine ganze Menge von der Welt mit. Das ist ein Schatz, etwas sehr Gutes.

Was soll ich auf dieser Welt, wenn ich gefühllos bin oder mich auf Geheiß gefühllos machen würde?
- Gefühllos ist man vor der Geburt und nach dem Tod. -
Nur um besser im Sinne von anderen zu funktionieren?
Das kann es also nicht sein.


Deshalb lese und bespreche ich mit Kindern auch immer gern "Die Prinzessin auf der Erbse" von Hans Christian Andersen.

Sie kommen schnell darauf, dass Empfindsamkeit ein positives Vermögen ist: "Sie kriegt von allem mehr mit..."

Man kann also zu seiner Empfänglichkeit für Reize von außen stehen. Es ist richtig so zu sein. Immerhin suchte der Prinz so jemanden, er suchte eine "richtige" Prinzessin. Da war er sich ganz sicher. Was war die vornehmste und vornehmliche Eigenschaft, woran man eine richtige Prinzessin, also eine besondere Person, erkennen kann?

Dass sie unter zwanzig Matratzen eine Erbse spürt, die ihr die Nachtruhe raubt.
Dass sie empfindsam ist, über die üblichen Maße hinaus empfindsam ist.

Dann kommen wir darauf, dass man als ein empfindsamer Mensch mit dieser Situation auch umgehen muss. Dass man selbst mit seiner Empfindsamkeit umgehen muss. Was kann man da tun? 
Erstens: Viel nachdenken. Verstand einsetzen. Verstand ist nach Kant die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Ein Navigationsinstrument im Ozean der Reizüberflutung im Alltagsleben.
Zweitens: Rückzug. Ausruhen, Regenerieren, Anderes, Schönes tun. Muße.
Drittens: Grenzen setzen. Auch mal ausrasten, wenn es zu viel wird.

Ich halte das für eine wichtige Botschaft an Kinder: Nimm Deine Sensitivität an und gehe mit ihr, mit Dir! gut um! Und sorge dafür, dass die anderen es auch tun!

Ein gewisser Kampfgeist für das, was uns wichtig ist, gehört in diesem Leben sowieso dazu.

Dazu gehört auch Grenzen setzen und mal etwas "raushauen". Wenn das Verhältnis zu den anderen insgesamt stimmt, dann kann solch ein reinigendes Gewitter insgesamt nur nützen.

Wir sagen doch auch immer zu den Kindern: Wozu haben wir Sprache? Sprich es aus.
Zusatz: Und mache die Erfahrung, dass Du von den anderen ernst genommen wirst in dem, was Dir wichtig ist.

Wichtig ist aber auch die Rolle der Umstehenden, wenn jemand aktuell irgendwo angegriffen wird.
Man kann einschreiten und sagen:Stopp! Was machst Du da gerade? Das hat der / die nicht verdient.

Und schon hängt der Himmel wieder gerade.

Viele Kinder der 3 c machen das. Sie lassen nicht zu, dass jemand jemanden schlecht behandelt. Dann hat er/sie Verbündete in der Sache.

Das ist die beste Variante im gemeinsamen Zusammenleben. Dann haben wir von dem, was an Potenzialen in uns allen drinsteckt und darauf lauert, auch mal nach draußen zu dürfen, eine ganze Menge verwirklicht!

Mein erster Schulleiter, 1976, Herr Allers, er verfügte über etwas, was man einmal klassische Bildung nannte, er erwähnte im Gespräch mit einer ganz, ganz jungen, kaum 23 Jahre alten Lehreranwärterin anerkennend deren "pädagogischen Eros". Sie war ganz glücklich darüber und fühlte sich erkannt und gewürdigt.

Heute würde man bei einem solchen Begriff wohl gemeinhin an Pädophiles denken. Also, die Welt entwickelt sich nicht immer wirklich voran.

Danke für die Geduld des Lesens! <3

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