Samstag, 28. November 2015

"Meine" Gespräche: Der Klügere gibt nach? Teil 2

Mitnichten. In einem Konflikt geht es stets um Wahrheit und um Werte. Das muss schon ausgetragen werden. 
Appeasement hilft nur dem, der aggressiv ist.

Es ist sechs Minuten vor halb 12, die Tür geht auf und ein großer Körper schiebt sich rein. Vermutlich der zweite Junge aus dem Konflikt. Natürlich sind wir grade mittendrin in einer Sache, er kriegt darum eine genauso unsensible Antwort, wie es seine Handlung war: "Warte draußen, bis die Stunde vorbei ist!"

Dann ist die Stunde vorbei. Die Drittklässler verlassen den Raum, der Junge und ich suchen uns einen Platz. "Du bist Y?", frage ich. Ich kannte ihn bislang nicht persönlich. Er ist es. "Ist das ein griechischer Name?" "Ja," sagt er. Es ist wirklich ein sehr schöner Name aus der Medea-Sage, das sage ich ihm, aber nicht aus taktischen Gründen, sondern weil mir der Name wirklich gut gefällt. Ich möchte mein Faible fürs Griechische nicht verbergen.

Schon der dritte Junge dieser Altersstufe in den letzten Wochen, der schillernd und irritierend eloquent ist. Er hat wohl große Übung in Konfliktgesprächen und darin, der Gegenseite ihre eigenen Anliegen auszureden....

Sehr oft fällt die Wendung "er nervte". Ich frage zurück: "Du bist schnell genervt?" "Oh ja,", bestätigt er ,"sehr schnell." Ihm wurde dieser rassistische Übergriff vorgeworfen. Er sagt, das war der andere, der dritte Junge.

Was er zugibt, aber nicht in der extremen Form, ist die Beleidigung der Haartracht von J. verbunden mit sexistischen Beleidigungen. Er sei aber auch mehrfach von den Kleinen als "Fettsack" bezeichnet worden und das würde ihn furchtbar aufregen.
Ich lass das mal stehen. In einer kleinen Runde mit den Jungen aus der 3 c werden wir das aufnehmen und schauen, was da dran ist.

Schnell schwenkt er aber um und geht in die scheinbare Selbstkritik. Scheinbar, weil es auch ein wenig oszilliert. Er findet es teilweise nicht richtig, wie er sich verhalten hat, er würde sich auch gerne entschuldigen: "Der Klügere gibt nach," sagt er.
Hm. Hat er nun oder hat er nicht? Hat er Grund geliefert, sich zu entschuldigen oder gibt er als der Klügere nach.
Beides gleichzeitig geht ja der Logik nach so nicht ganz. Aber es ist ein Ansatzpunkt, der von ihm selbst kommt,  nachdem er mit der Frage konfrontiert wurde, wieso die Gruppe sich an drei Jahre jüngeren Kindern abarbeitet, damit sich die einzelnen besser fühlen. Wieso sie sich nicht Gleichstarke aussuchen, sondern erkennbar Schwächere.

Er wirkt extrem reizbar und leicht irritierbar, es fehlen ihm wohl ein verlässlicher Reizschutz und auch die Impulskontrolle.

Dass die Drei so ein bisschen Lust an der Niedertracht hatten, "es" den Kleinen mal gemeinsam "zu zeigen", bleibt unerwähnt, obwohl es eher wahrscheinlich ist, es wäre für den Verlauf des Gespräches kontraproduktiv gewesen.

Ich befürchtete, er würde mir am Ende des Gespräches auf die Schulter klopfen, wie das vor kurzem nach Konfliktgesprächen mehrfach ein anderer Schüler tat, was mir außerordentlich unangenehm war.

Aber er tut, was er kann, damit die andere Seite, also ich, ihn nicht für einen ganz schlimmen Jungen hält, und die andere Seite geht darauf ein. 

Ich spreche ihn auf X an, sage, ihm geht es wohl derzeit nicht so gut, ob er Freunde hat, mit denen er sprechen kann. Daraufhin erzählt er, dass er dessen Freund sei und auch, woraus der innere Druck beruhe, unter dem X steht. Es habe mit Xs Wunsch zu tun, aufs Gymnasium zu gehen wie sein älterer Bruder, er würde sich da sehr viel Druck machen, weil er das so stark wolle.

Ich nehme Ys Angebot an, wir verabreden ein Gespräch mit den betroffenen Kindern, wo er Stellung zu seinem Verhalten nimmt.

Dann müssen wir das Gespräch beenden, weil wir, die 3 c, jetzt gemeinsam, acht Kinder und eine Lehrerin, ins Karstadt Neons kaufen gehen....Das hatten wir uns schon so lange vorgenommen und jeden Tag hatte Mert gefragt: "Wann kaufen wir die Fische?"

Y hat selbst zum Fortgang der Überlegungen beigetragen und einen Weg eröffnet, die Dinge wieder in eine akzeptable Spur zu kriegen.

Gerade zur selben Zeit saß seine Familie bei der Schulleitung wegen anderer Vorkommnisse.

Und ich spreche hier mit einem, gewiss hocherregbaren, aber durchaus für mich verstehbaren Jungen, dem man sicher sehr helfen könnte, wenn er sein sensibles Nervensystem beruhigen und seine starken Impuse ein wenig mehr unter Kontrolle bekommen könnte.
Das war sehr interessant.

Jeder von beiden Jungen der 6. Klasse hat von sich aus zur Lösung beigetragen.

Bleibt noch der dritte Junge.

Y erzählte auch im Gespräch, was X aus Angst nicht so gerne hatte zugeben wollen: X hatte M. stark geschubst, M. war nicht gestolpert, sondern zu Fall gebracht worden.

Y wusste aber nicht, was X mir erzählt hatte. Auch ein Vorteil von getrennten Gesprächen. Man bekommt einfach mehr Fakten, wie sich das wirklich zugetragen hatte und somit mehr Boden unter die Füße.

Was aber bleibt zu tun? Ein Anruf bei Ms Familie, um zu fragen, wie es ihm nun geht. Die Familie soll sich diesen Gewaltverhältnissen gegenüber ebenfalls nicht ohnmächtig fühlen.

Mir wird aber wieder einmal klar, wie wichtig diese Konflikte und Streits sind. Sie geben Reibungsflächen zwischen Menschen - und in der nachfolgenden Behandlung dessen, was geschehen ist, werden sich die Menschen gegenseitig mehr einsehbar und damit auch verstehbar.

Das ist der "Sinn" darin, Konflikte ernst zu nehmen.
Das heißt auch, Positionen ernst nehmen und aus dem WischiwaschiGelaber herauszukommen.
Regeln bekommen Hintergründe durch viele Beispiele.
Es ist auch ein Versuch, Menschen ernst zu nehmen in dem, was ihnen jeweils wichtig ist, große oder kleine Menschen.

Das sollte aber ohne körperliche Übergriffe möglich sein.
Körperliche Übergriffe sind nicht entschuldbar, denn als Menschen haben wir Sprache.

Das sollte auch der Schule wichtig sein, damit Regeln nicht nur Worthülsen bleiben. Damit die Menschen nicht in Vorurteilen aneinander abgleiten und jeweils bei sich verbleiben.

Das aber braucht Zeit.
Womit wir wieder beim Anfang wären.

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