Es ist Wochenende und Samstag. Seit einigen Stunden schon sitze ich am großen Wohnzimmertisch, die Arbeitsmappen der Kinder liegen aufgestapelt oder ausgebreitet um mich herum sowie Materialien, Listen und was man sonst zur Korrektur noch so alles braucht.
Es ist der individualisierende, differenzierende Unterricht, der mich im Moment so verzweifeln lässt, nein, nicht er, es sind die unglaublich vielen Vor- und Nacharbeiten, die keiner sieht, wenn sie getan werden und die niemandem auffallen, außer dem, der sie alle tun muss und trotzdem das Gefühl hat, immer zu wenig zu tun....
So darf ein Wohnzimmertisch am Wochenende nicht aussehen!
Jede Mappe schaue ich nach, dann vermerke ich im Arbeitsplan des Kindes, was getan ist, was verbessert werden muss und überlege mir, ob das Kind es allein tun kann oder ob es Hilfe braucht, und wenn ja, in welcher Förder- oder Unterrichtsstunde unter welchen Bedingungen wer ihm diese Hilfe geben kann.
Das muss ich alles in Listen für mich auch nochmal dokumentieren, damit ich weiß, wo jedes Kind steht.
Jede Mappennachsicht dauert etwa 30 Minuten. Bei 25 Kindern sind das rund 13 Stunden am Wochenende.
In der Woche bin ich stets so absorbiert, dass ich das nicht schaffe. Auch habe ich nach 7 bis 8 Stunden ohne wirkliche Pause oft so ein Leistungstief, dass ich erst einmal nach Hause gehen muss, um mich zu erholen. Schließlich bin ich schon 60 Jahre alt.
Ein Schulhaus ist ein grausamer Ort. Schreiattacken, herumflitzende Kinder, die sich an Regeln nicht halten, kein wirklicher Arbeitsplatz - in der Klasse am Nachmittag muss ich mir beim Korrigieren Arbeitsruhe so krass erzwingen, dass ich mich auch schon nicht mehr wohl fühle.
Andauernd kommen Kinder herein oder gehen hinaus, sie knallen die Tür zu, bis ich sie abschließe - es gibt ja noch die Tür im Freizeitraum und beide Räume sind durch eine Öffnung verbunden.
So kann ich manchmal korrigieren, ein paar Kinder, die auch die Ruhe schätzen, sitzen dann im Raum und malen oder spielen etwas Ruhiges. Draußen tobt die Meute.
In solchen Momenten habe ich schon vier Stunden unterrichtet gehabt und den Rest der Zeit vorbereitet.
Besonders die Stunden im Werkraum sind extrem vor- und nachbereitungsintensiv. Das glaubt man nicht, wenn man es nicht selbst gemacht hat.
Also muss ich doch die Arbeitsmappen mitnehmen?? Sonst bekomme ich doch gar nicht mit, wo die einzelnen Kinder sind, womit sie Schwierigkeiten haben und kann sie nicht angemessen begleiten.
Meine Co-Lehrerin ist aus nachvollziehbaren Gründen gehindert, die Hälfte der Korrekturen zu übernehmen, so wie wir das früher gemacht haben.
Jede nahm eine Hälfte der Mappen mit, am nächsten Wochenende die andere. Das waren dann immerhin nur 12 oder 13. Jetzt sind es 25 für mich.
Differenzierung und Individualisierung des Unterrichts ist ein gutes Ziel. Aber es müsste auch Zeit sein, es zu verwirklichen.
Oft fühle ich mich gehetzt und kann mich auf die einzelne Arbeit nicht so einlassen, wie ich möchte.
In dieser Woche war noch eine Konferenz. Zusätzlich. Wegen der Quantifizierung des Qualitativen, wegen der Schulinspektion. Am Nachmittag ab 16.30 Uhr.
Ich hatte das Gefühl, das packe ich nicht mehr zusätzlich. Es geht mir jetzt an die Substanz meiner Arbeitsfähigkeit.
Ich wünsche mir, dass die Alltags- und Kernarbeit einer Lehrerin respektiert und gewürdigt wird.
Als ich das auf einer Konferenz einmal sagte mit der Begründung, dass ich deshalb nicht ohne Weiteres jedem eventisierten Schulfest zustimmen will, flogen mir die Fetzen um die Ohren und ich wurde hinter dem Rücken als arbeitsscheu diffamiert.
Daraufhin beschloss ich, auf solchen Konferenzen nichts mehr zu sagen und auch nicht mehr mit abzustimmen, ins innere Exil zu gehen.
Wenn es niemanden mehr interessiert, wie ich als Lehrerin gesund bleiben kann, mich interessiert es schon!
Ich habe aus Gründen inhaltlicher Ansprüche und aus Gründen der Gesundheit eine 70%-Stelle. Damit verzichte ich auf ein paar Hunderter im Monat, um in Ruhe und mit meinen Schwerpunkten die Arbeit zu tun, für die ich bezahlt werde.
Feste, Konferenzen, Teamstunden, Gespräche müssen aber alle zu 100% zeitlich bewältigt werden.
Fange ich jetzt an zu rechnen, geht die Zeit von den Kernaufgaben ab.
Man glaubt nicht, mit wem ein Lehrer heute alles reden soll. Jeder Logopäde, jeder Therapeut will mal telefonieren, Integrationshelfer von Familien, die selbst dann nicht zum Gesprächstermin erscheinen, möchten gerne mit einem sprechen....Für jeden Ausflug muss ich genau Listen ausfüllen, wer eine Berlin-Card hat und deshalb keinen Eintritt bezahlt, muss es vorlegen und bekomme das Geld dann von der Schulleitung zurück. Das ist etwa eine halbe Stunde Zeit, die ich dem Ministerium für Arbeit schenken muss, das gar nicht mein Arbeitgeber ist und die wiederum von meiner Arbeitszeit für meine drängenden Aufgaben abgeht....und alles so nebenbei...und das Andere, das Pädagogische, das soll irgendwie auch noch hergezaubert werden. Mit Betonung auf "irgendwie".
Ich habe jetzt nicht die Gespräche mit den Schülereltern genannt, die mir sehr wichtig sind oder ebenfalls wichtige Gespräche mit einzelnen Schülern. Hier möchte ich keine Abstriche machen.
2013 hatte ich 400 Stunden mehr gearbeitet als wofür ich bezahlt werde. Mit dem Ferienausgleich.
2014 fing es schon so an:
Es nützt ja auch nichts, alles nur aufzuschreiben, wenn man nicht bereit ist, Abstriche zu machen, aber WO soll ich sie machen???
Die Rechnung geht so:
Ein Beamter in Berlin arbeitet mit 100%
40 Stunden in der Woche.
Als normaler Arbeitnehmer muss er
im Jahr 46 Wochen arbeiten.
Eine Lehrerin arbeitet 40 Wochen.
Als Ferienausgleich, und um
so viel zu arbeiten wie jeder andere auch,
müsste sie also 40 Wochen lang
46 Wochenstunden arbeiten.
Dann hat sie immer noch den schönen Vorteil
der 12 Wochen Ferienzeit, aber nicht auf Kosten
der Jahresarbeitszeit.
Wenn ich jetzt 70% einer Lehrerstelle innehabe,
dann müsste ich, damit das nicht auf meine Kosten
im doppelten Sinne geht, nur 70% auch arbeiten.
70% von 46 sind 32,2 Stunden.
Ich darf also, wenn ich mir dabei nicht selbst
ins Knie schießen will,
wöchentlich nur 33 Zeitstunden
arbeiten.
Eigentlich hatte ich einmal nach 25 Jahren
Fachlehrerin sein wollen.
Da geht so etwas leichter.
"So etwas" heißt, sich abgrenzen können.
Aber dann durfte ich das nicht.
An unserer Schule haben wir mehrere jüngere Männer,
die sind kein Klassenlehrer.
Das heißt, ich MUSSTE eine Klasse
übernehmen.
Ich habe mir gesagt, in Ordnung.
In einer Firma kannst Du auch nicht Nein sagen,
wenn Dein Chef sagt,
das musst Du aus bestimmten Gründen machen..
Aber ich möchte auch merken, dass
ich weniger arbeite, und zwar
nicht nur auf dem Bankkonto.
Was fang ich jetzt an, wenn seit Januar meine Arbeitsstundenzahl so aussieht - Essenspausen sind schon abgezogen, Blogschreibestunden, obwohl sie für die offizielle Schulseite waren, nicht eingerechnet...
In der ersten Woche waren es fünf Stunden mehr. In der zweiten Woche zwölf, jetzt sind es bis Freitagabend schon elf mehr (auf- und abgerundet).
Am Freitagabend habe ich noch 3 Mappen nachgesehen, heute waren es 4.
Da ich 18 mitgenommen habe; nicht jedes Kind gab tatsächlich ab, bleiben noch 11 übrig.
Im Moment bin ich nur ratlos.
In dieser Woche habe ich meiner Schulleiterin gesagt, dass ich zur Konferenz nicht kommen kann, denn mein Gesundheitszustand lässt es nicht zu, dass ich komme danach und ohne Abstriche weiter arbeiten kann. Ich habe diese Teilzeitstelle, damit die Balance von Arbeit und Erholung stimmt.
Dafür nehme ich finanzielle Einbußen in Kauf und ich werde weiterhin auf die Erhaltung meiner Arbeitsfähigkeit achten, auch, wenn ich dabei die einzige bin.
Ich bin da nicht hingegangen. Immerhin wurde ich anschließend noch gegrüßt... ;)
Warum ich das aufschreibe? Ich glaube, es steckt System dahinter. Es ist ein gesellschaftliches Phänomen.
Ich habe als Lehrerin Zeitverfügungsprivilegien, die andere Berufsausübende nicht haben. Doch unsere Arbeitsmenge steigt unaufhörlich, grenzenlos, auf Kosten der Kernarbeiten des Unterrichtens und Erziehens, schleichend, lautlos, heimlich.
Dagegen möchte ich Einspruch erheben.
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