Mittwoch, 3. Februar 2016

Ich will doch nur Dein Bestes!"

Warum sind "plötzlich" manche Eltern so anders? Es hat etwas Verstörendes, wenn es einem nicht irgendwie schon bekannt vorkäme. 

Man bemüht sich seit Jahren um ein gutes Verhältnis, zeigt sich offen und gesprächsbereit und erfährt dann eine Art nonverbaler Abkehr, auf die man sich erst einmal einen Reim machen muss.


Gestern, im "Viasko" mit Karla zusammen. Ich erzähle ihr davon. Sie lächelt schon so. 


Als ich ihr meine Hypothese dazu sage, stimmt sie vehement zu: "Du kennst das doch schon aus früheren Jahren: Mitte der 3. Klasse fangen einige Eltern an, mit den Füßen zu scharren, sie werden ablehnend oder lassen durchblicken, dass ihnen ihr Kind zu wenig lernt. Du weißt auch, warum?"


Ich nicke. Mir kam der Gedanke auch schon: Es gibt nur eine Erklärung: 


Sie wollen ihr Kind nach der 4. Klasse aufs "grundanständige Gymnasium" schicken, wo sie meinen, dass ihr Kind  nicht ständig gebremst wird.


Die Gymnasien, die in Berlin außerhalb der Regel nach der 4. Klasse beginnen, nennen sich aus ideologischen Gründen "grundständiges" Gymnasium, was suggerieren soll, dass für bildungswillige Eltern die Kinder in der Berliner Schule zwei Jahre zuviel auf der Grundschule herumlungern und wertvolle Lebenszeit für "richtiges" Lernen verlieren. 


Das Wort kommt mir daher nicht über die Lippen.

Ich komme aus Rheinland-Pfalz, wo das Gymnasium immer nach der 4. Klasse beginnt, die "Auslese" also schon in der 2. Klasse. Das ist, wenn es überhaupt sein soll, viel zu früh.

Karla und ich, wir kennen das Phänomen: In den ersten beiden Schuljahren ziehen alle Eltern mit, dann ist der Schulanfang gemacht, die erste Klippe ist genommen. Das ist Vergangenheit. Jetzt dreht sich der Wind.

Nun unterhält man sich ja auch mit anderen Eltern und da wird auch ein bisschen geprunkt:

"Mein Sohn hat schon..., meine Tochter kann schon....bei meinem Kind sind sie schon auf Seite xxx...."

Und so entsteht dieses Gefühl: Die bei uns tun zu wenig.

In der letzten Klasse, die wir von 1 bis 6 führten, war das zu diesem Zeitpunkt ganz genauso. Ab Ende der Vierten wurde es besser und in der 5. und 6. Klasse standen alle Eltern wieder voll und mit Überzeugung hinter unserer Art, Schule zu machen: 


Die anderen Hochgelobten, die Freundeskinder, Cousins und Cousinen, die durch die Mühle: "Heute hier auf Seite 49, morgen dort auf Seite 50 im Lehrbuch" gegangen waren, zeigten Ermüdungserscheinungen, wen wundert es auch? Sie schlafften ab.

Angesichts dessen hatten "unsere" Kinder immer noch eine frische Motivation und Begeisterung für jedes Fach, erprobten sich und wurden, je älter sie wurden, immer stärker.
Das spürten die Eltern auch. Danach waren sie wieder voll bei uns.

Aber es nützt wenig, davon zu reden. Das glaubt einem doch keiner.

Manchmal hörte ich von Kollegen auf Gymnasien, dass die "Lenauer" immer besonders offen und neugierig waren, sehr gut präsentieren konnten, sich auf Projektarbeit verstanden, aber nicht als Mitläufer, also stark und neugierig waren und Fakten gut verbinden konnten. Ja, sie hatten auch schon manchmal eine Wissenslücke, die sie schnell füllten, wenn es darauf ankam.

Ja. Klar. Kennen wir. Schön, wenn es andere auch bemerken. Fühle mich ja immer noch als "Lenauerin", bin aber leider nur noch die letzte Mohikanerin von der damaligen Truppe.


Was vorher aussah wie Falschparken auf dem Weg in die Bildung, war später als der unangetastete Motor der Bildung erkennbar geworden: Bildung ist nämlich Selbstbildung.

Die Energie, der Motor, die Lernfreude, der aktive Eroberungswille neuer Sachverhalte, das sind leicht störbare Dinge, die aber für den lebenslangen Bildungsprozess unabdingbar sind.


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Deshalb, liebe Eltern, die Sie Ihr Kind nach der 4. Klasse aufs fälschlicherweise so bezeichnete grundständige Gymnasium schicken möchten, um sich von der Berliner Grundschule, so, wie sie gedacht ist, abzugrenzen, können Sie Lehrer*innen wie mich, ab einem bestimmten Zeitpunkt nur schwer vertragen: Sie interpretieren mein Lernkonzept auf dem Hintergrund Ihrer persönlichen Wünsche als defizitär.
Ich aber bin für alle Kinder zuständig und ich weiß nicht, ob Sie die Geduld aufbringen würden, einmal zu erfahren, mit welchen Schwierigkeiten andere Kinder zu kämpfen haben.
Ihr Kind lernt leicht und gut und hat einen klaren Verstand. Ihr Kind ist sensibel und empfindsam. Dafür kann man sehr dankbar sein.
Ihr Kind wird auf der Berliner Grundschule aller Voraussicht nach eine Gymnasialempfehlung bekommen.
Auf dem Gymnasium nach der 4. Klasse wird es mit allen Kindern anderer ehrgeiziger Eltern zusammensitzen, die Lernmethoden werden nach solche nach dem Nürnberger Trichter sein, der Wettbewerb wird gnadenlos sein.
Die Kindheit Ihres Kindes wird möglicherweise auf dem Altar der Distinktion geopfert werden. Im Ausnahmefall kann die Entscheidung richtig sein und den Lerninteressen und dem Lernstil Ihres Kindes entsprechen. Möglicherweise könnte dies alles Ihr Kind aber auch blockieren. Genau weiß man das vorher nicht. Deshalb sollte alles genau abgewogen werden.

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Quervergleiche (Was kann der, was kann ich...) sind wohl das Lebenselixier einer kapitalistischen Gesellschaft- man nennt es Wettbewerb -  in der Bildung sind sie als Tönung, die alles grundiert, lähmend und dysfunktional.
Fruchtbar sind Längsvergleiche (Was konnte ich gestern, letzte Woche, letzten Monat..., was kann ich heute)

Es gibt in der Gesellschaft erfolgreiche Leute, die wunderbare Jobs machen, die ihnen Freude bereiten, die ihr Abi mit Zweiundnochwas abgeschlossen haben und die gleichzeitig auf eine frohe und unbeschwerte Kindheit zurückblicken können und nicht "Unters Rad" gekommen sind, wie Hermann Hesse sein Buch über eine Schulkindheit nannte.

Über die "seelischen Kosten" die Eltern- und Schulerwartungen und Leistungsdruck bei Kindern bereiten, gibt es ein Stück des "Grips"-Theaters:



Die Prinzessin und der Pjär Grips Theater (Link)

Wir werden es am 12. April besuchen.


Dann sprachen Karla und ich noch über unsere "bildungsnahen" Eltern, die unverkrampft bleiben, die die Freiheit und Selbststeuerung ihres Kindes schätzen und sich darüber freuen, und die wissen: Mehr Druck macht sicher Sinn in der Physik, also beispielsweise bei einer Wasserpumpe, aber bei Menschen gibt es automatisch nicht mehr Effizienz, wenn man mehr Druck macht - und die eine fröhliche, gesunde Gelassenheit nicht mit Lässigkeit verwechseln.


Diese Eltern haben wir nämlich auch. Sie setzen das Wohlbefinden ihres Kindes an die erste Stelle und gehen mit den Zumutungen des allvorhandenen Wettbewerbens und Sich-Vergleichens gelassen um.

Sollte ihr Kind sich in der Schule nicht wohlfühlen, würden sie das bemerken, zur Sprache bringen und nach Lösungen suchen.

In einer kalten, wettbewerbssüchtigen Welt ist es nicht leicht, aber richtig, mit den Interessen des eigenen Kindes solidarisch zu sein und zu bleiben als da sind:

1. Mein Kind soll ein möglichst gutes Abitur machen.
2. Mein Kind soll eine schöne Kindheit und Jugendzeit haben.
3. Ich habe Vertrauen in mein Kind, dass es seine eigenen Interessen und Stärken entwickelt und SEINEN Weg gehen wird. Dabei will ich es begleiten und ihm eine Hilfe sein.

Denn später wird es gnadenlos auf den Markt geschickt, ob man das will oder nicht. Da ist es besser, stärker, und sich seiner selbst bewusst zu sein.

Menschen sind eigenständige Subjekte, die innen drin eine Art Kompass für sich selbst haben.

Den darf man nicht irritieren. Wir, Eltern und Lehrer, wir sind die Helfer und Unterstützer des Weges, den die Kinder selbst finden und gehen müssen.
Schlüsselwort: Vertrauen.

"Ich will doch nur Dein Bestes!", sagt die Mutter.

"Genau das möchte ich für mich behalten.", antwortet das jugendliche oder erwachsene Kind.
Mit Recht.

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