Erich Kästner: Ansprache zum Schulbeginn:
Liebe Kinder,
da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe sortiert, zum
erstenmal auf diesen harten Bänken, und hoffentlich liegt es nur an der
Jahreszeit, wenn ihr mich an braune und blonde, zum Dörren aufgefädelte
Steinpilze erinnert. Statt an Glückspilze, wie sich´s eigentlich
gehörte.
Manche von euch rutschen unruhig hin und her, als säßen sie auf
Herdplatten. Andre hocken wie angeleimt auf ihren Plätzen. Einige
kichern blöde, und der Rotkopf in der dritten Reihe starrt, Gänsehaut im
Blick, auf die schwarze Wandtafel, als sähe er in eine sehr düstere
Zukunft. Euch ist bänglich zumute, und man kann nicht sagen, dass euer
Instinkt tröge. Eure Stunde X hat geschlagen. Die Familie gibt euch
zögernd her und weiht euch dem Staate. Das Leben nach der Uhr beginnt,
und es wird erst mit dem Leben selber aufhören. Das aus Ziffern und
Paragraphen, Rangordnung und Stundenplan eng und enger sich spinnende
Netz umgarnt nun auch euch. Seit ihr hier sitzt, gehört ihr zu einer
bestimmten Klasse. Noch dazu zur untersten. Der Klassenkampf und die
Jahre der Prüfungen stehen bevor. Früchtchen seid ihr, und Spalierobst
müsst ihr werden! Aufgeweckt wart ihr bis heute, und einwecken wird man
euch ab morgen! So, wie man’s mit uns getan hat. Vom Baum des Lebens in
die Konservenfabrik der Zivilisation ? das ist der Weg, der vor euch
liegt. Kein Wunder, dass eure Verlegenheit größer ist als eure
Neugierde.
Hat es den geringsten Sinn, euch auf einen solchen Weg Ratschläge
mitzugeben? Ratschläge noch dazu von einem Manne, der, da half kein
Sträuben, genau so “nach Büchse” schmeckt wie andre Leute auch? Lasst es
ihn immerhin versuchen, und haltet ihm zugute, dass er nie vergessen
hat, noch je vergessen wird, wie eigen ihm zumute war, als er selber zum
erstenmal in der Schule saß. In jenem grauen, viel zu groß geratenen
Ankersteinbaukasten. Und wie er, ihm damals das Herz abdrückte.
Damit wären wir schon beim wichtigsten Rat angelangt, den ihr euch
einprägen und einhämmern solltet wie den Spruch einer uralten
Gedenktafel:
Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten
Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie
wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. ihr Leben kommt ihnen vor
wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen
worden ist, existiert nicht mehr.
Man nötigt euch in der Schule eifrig von der Unter- über die Mittel-
zur Oberstufe. Wenn ihr schließlich droben steht und balanciert, sägt
man die “überflüssig” gewordenen Stufen hinter euch ab, und nun könnt
ihr nicht mehr zurück! Aber müsste man nicht in seinem Leben wie in
einem Hause treppauf und treppab gehen können? Was soll die schönste
erste Etage ohne den Keller mit den duftenden Obstborten und ohne das
Erdgeschoss mit der knarrenden Haustür und der scheppernden Klingel? Nun
– die meisten leben so! Sie stehen auf der obersten Stufe, ohne Treppe
und ohne Haus, und machen sich wichtig. Früher waren sie Kinder, dann
wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun?
Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch. Wer weiß, ob
ihr mich verstanden habt. Die einfachen Dinge sind schwer begreiflich zu
machen. Also gut, nehmen wir etwas Schwieriges, womöglich begreift es
sich leichter. Zum Beispiel:
Haltet das Katheder weder für einen Thron, noch für eine Kanzel! Der
Lehrer sitzen nicht etwa deshalb höher, damit ihr ihn anbeten, sondern
damit ihr einander besser sehen könnt, Der Lehrer ist kein Schulwebel
und kein lieber Gott. Er weiß nicht alles, und erkann nicht alles
wissen. Wenn er trotzdem allwissend tut, so seht es ihm nach, aber
glaubt es ihm nicht! Gibt er hingegen zu, dass er nicht alles weiß, dann
liebt ihn! Denn dann verdient er eure Liebe. Und da er im übrigen nicht
eben viel verdient, wird er sich über eure Zuneigung von Herzen freuen.
Und noch eines:
Der Lehrer ist kein Zauberkünstler. sondern ein Gärtner. Er kann und wird euch hegen und pflegen. Wachsen müsst ihr selber!
Nehmt auf diejenigen Rücksicht, die auf euch Rücksicht nehmen! Das
klingt selbstverständlicher, als es ist. Und zuweilen ist es furchtbar
schwer. In meine Klasse ging ein junge, dessen Vater ein Fischgeschäft
hatte. Der arme Kerl, Breuer hieß er, stank so sehr nach Fisch, dass uns
anderen schon übel wurde, wenn er um die Ecke bog. Der Fischgeruch hing
in seinen Haaren und Kleidern, da half kein Waschen und Bürsten. Alles
rückte von ihm weg. Es war nicht seine Schuld. Aber er saß, gehänselt
und gemieden, ganz für sich allein, als habe er die Beulenpest. Er
schämte sich in Grund und Boden, doch auch das half nichts. Noch heute,
fünfundvierzig Jahre danach, wird mir flau, wenn ich den Namen Breuer
höre. So schwer ist es manchmal, Rücksicht zu nehmen. Und es gelingt
nicht immer. Doch man muss es stets von neuem versuchen.
Seid nicht zu fleißig! Bei diesem Ratschlag müssen die Faulen
weghören. Es gilt nur für die Fleißigen, aber für sie er sehr wichtig.
Das Leben besteht nicht nur aus Schularbeiten. Der Mensch soll lernen,
nur die Ochsen büffeln. Ich spreche aus Erfahrung. Ich war als kleiner
Junge auf dem besten Wege, ein Ochse zu werden. Dass ich’s, trotz aller
Bemühung, nicht geworden bin, wundert mich heute noch. Der Kopf ist
nicht der einzige Körperteil. Wer das Gegenteil behauptet, lügt. Und wer
die Lüge glaubt, wird, nachdem er alle Prüfungen mit Hochglanz
bestanden hat, nicht sehr schön aussehen. Man muss nämlich auch
springen, turnen, tanzen und singen können, sonst ist man mit seinem
Wasserkopf voller Wissen, ein Krüppel und nichts weiter.
Lacht die Dummen nicht aus! Sie sind nicht aus freien Stücken dumm
und nicht zu eurem Vergnügen. Und prügelt keinen, der kleiner und
schwächer ist als ihr! Wenn das ohne nähere Erklärung nicht einleuchtet,
mit dem möchte ich nichts zu tun haben. Nur ein wenig warnen will ich
ihn. Niemand ist so gescheit oder so stark, dass es nicht noch
Gescheitere und Stärker als ihn gäbe. Er mag sich hüten. Auch er ist,
vergleichsweise schwach und ein rechter Dummkopf.
Misstraut gelegentlich euren Schulbüchern. Sie sind nicht auf dem
Berge Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf verständige Art und
Weise, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern
entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus
alten Schulbüchern entstanden sind. Man nennt das Tradition. Aber es ist
ganz etwas Anderes. Der Krieg zum Beispiel findet heutzutage nicht mehr
wie in Lesebuchgedichten statt, nicht mehr mit geschwungener Plempe
und nicht mehr mit blitzendem Küraß und wehendem Federbusch wie bei
Gravelotte und Mars-la-Tour. In manchen Lesebüchern hat sich das noch
nicht herumgesprochen. Glaubt auch den Geschichten nicht, worin der
Mensch in einem fort gut ist und der wackre Held vierundzwanzig Stunden am Tage tapfer!
Glaubt und lernt das, bitte, nicht, sonst werdet ihr euch, wenn ihr
später ins Leben hineintretet, außerordentlich wundern! Und noch eins:
Die Zinseszinsrechnung braucht ihr auch nicht mehr zu lernen, obwohl sie
noch auf dem Stundenplan steht. Als ich ein kleiner Junge war, mussten
wir ausrechnen, wie viel Geld Jahre 1925 aus einem Taler geworden sein
würde, den einer unserer Ahnen 1525, unter der Regierung Johannes des
Beständigen, zur Sparkasse gebracht hätte. Es war eine sehr komplizierte
Rechnerei. Aber sie lohnte sich. Aus dem Taler, bewies man uns,
entstünde durch Zinsen und Zinseszinsen das größte Vermögen der Welt.
Doch dann kam die Inflation, und im Jahre 1925 war das größte Vermögen
der Welt samt der ganzen Sparkasse keinen Taler mehr wert. Aber die
Zinseszinsrechnung lebte in den Rechenbüchern munter weiter. Dann kam
die: Währungsreform, und mit dem Sparen und der Sparkasse war es wieder
Essig. Die Rechenbücher haben es wieder nicht gemerkt.
Und so wird es Zeit, dass ihr einen Rotstift nehmt und Kapitel “Zinseszinsrechnung” dick durchstreicht.
Genauso wie die Attacke auf Gravelotte und der Zeppelin. Und wie noch
manches andere. Da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe
geordnet und wollt nach Hause gehen. Geht heim, liebe Kinder. Wenn ihr
etwas nicht verstanden haben solltet, fragt eure Eltern! Liebe Eltern,
wenn Sie etwas nicht verstanden haben sollten, fragen Sie Ihre Kinder!
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